von Diakon Tobias Riedel
Predigt
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Der heilige Paulus zählt in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth eine ganze Liste von Gaben des Heiligen Geistes auf. Wir alle kennen den Text:
Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem anderen durch denselben Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, einem anderen in demselben Geist Glaubenskraft, einem anderen – immer in dem einen Geist – die Gabe, Krankheiten zu heilen, einem anderen Kräfte, Machttaten zu wirken, einem anderen prophetisches Reden, einem anderen die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, wieder einem anderen verschiedene Arten von Zungenrede, einem anderen schließlich die Gabe, sie zu übersetzen.[1]
All diese Gaben sind gleich wertvoll – und doch möchte ich in der Predigt heute eine herausgreifen, weil wir sie in diesen Tagen, so scheint mir, bitter nötig haben: Ich meine die prophetische Rede.
Prophetinnen und Propheten kennen wir schon aus dem Ersten Testament. Ich denke etwa an Mirjam und Samuel, an Elija und Amos, an Hosea und Jesaja oder an Jeremia und Daniel. Sie alle wandten sich im Namen JHWHs an das Volk Israel. Ihr Auftrag war weniger, Kommendes anzukündigen, gar die Zukunft vorherzusagen. Nein, ihr Auftrag war entweder die Kritik an religiösen oder sozialen Missständen oder der Trost und die Ermutigung der Menschen. Drei Beispiele: Elija kritisiert vehement den Baalskult seiner Zeit und fordert Treue zu JHWH. Sein Name ist Programm: „Elija“ heißt übersetzt „Mein Gott ist JHWH“.[2] Amos wendet sich mit scharfen Worten gegen soziale Ungleichheit. Er prangert das Luxusleben der Oberschicht an und kritisiert die Ausbeutung der Armen.[3] Jesaja schließlich entwirft (neben langen Passagen, in denen er dem Volk Israel das Gericht androht) Visionen des Heils, das mit der Herrschaft Gottes anbricht. Die ersten Verse des 40. Kapitels, die wir in der Regel im Advent hören, geben vielen Menschen bis heute Hoffnung: „Tröstet, tröstet mein Volk …“ [4]
Gott sei Dank gibt es prophetische Menschen auch in unserer Zeit. Mir fällt Kardinal Graf von Galen ein, der sich in der Nazizeit gegen die Ermordung behinderter Menschen wandte – so wurde er zum Vorbild auch für die Lübecker Märtyrer. Ich denke an Dom Helder Camara, der in aller Welt die Gräueltaten während der Militärdiktatur in Brasilien anprangerte und für die Rechte der armen Landbevölkerung eintrat – so wurde er zu einem der profiliertesten Vertreter der Theologie der Befreiung. Und ich denke auch an Papst Franziskus, der – trotz allen Pomps, der dem Petrusamt noch immer anhaftet – meines Erachtens glaubwürdig für die Bewahrung der Schöpfung und ein gerechteres Wirtschaftssystem eintritt.
Was zeichnet einen Propheten aus? Ich denke, es gibt einige typisch prophetische Eigenschaften und Haltungen – man könnte auch sagen: einige typische Entwicklungsschritte auf dem Weg zu einem Propheten.
- Erstens die Bereitschaft zum Hören auf Gott. Vor dem prophetischen Reden steht das prophetische Hören – denn ein Prophet spricht ja nicht aus sich heraus, sondern im Namen Gottes. Deshalb suchen Propheten immer wieder die Stille: Damit sie auf Gottes Anruf hören können.
- Zweitens ein ausgeprägtes Gespür dafür, wie die Welt nach Gottes Willen sein sollte – und einen realistischen Blick, wie sie tatsächlich ist. Mit dieser Spannung wird sich ein Prophet niemals abfinden – aus dieser Spannung erwächst sein Lebensthema, seine Botschaft.
- Drittens wird einem Propheten im Hören auf Gott und mit Blick auf sein Lebensthema irgendwann sein Auftrag klar: seine Berufung. Die Bibel überliefert die Berufungsgeschichten vieler Propheten – und die erste Reaktion ist in vielen Fällen Angst und Verweigerung. „Ach, Herr und Gott, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung“, entfährt es Jeremia, als ihm Gottes Auftrag klar wird. Doch Gott lässt nicht locker – und schließlich willigt Jeremia in seine Berufung ein.[5]
- Viertens muss ein Prophet authentisch sein. Ein Prophet, der nicht im Einklang mit seiner Botschaft handelt, ist nicht glaubwürdig. Wer für Klimaschutz eintritt und dennoch regelmäßig zum Shoppen nach Mailand jettet, wird wenig erreichen.[6]
- Schließlich darf ein Prophet – fünftens – nicht konfliktscheu sein. Wer die herrschenden Verhältnisse kritisiert, macht sich bei den Herrschenden in aller Regel unbeliebt. Schon die Bibel berichtet davon, wie tödlich belastend das sein kann: Elija etwa flieht aus Angst vor Königin Isebel, die den Baalskult in Israel fördert und ihm nach dem Leben trachtet, in die Wüste, um dort zu sterben – doch JHWH sorgt für seinen Propheten und gibt ihm neue Kraft.[7]
Wenn wir auf unsere Welt heute schauen, sehen wir uns Herausforderungen ausgesetzt wie vielleicht noch nie. Es sind im Kern die gleichen Fragen wie damals vor zweieinhalbtausend Jahren, doch sie stellen sich mit bisher ungeahnter Wucht:
- Die Frage nach Gott ist vielen Menschen irrelevant geworden. Andere missbrauchen den Namen Gottes für Gewalt. Und wieder andere setzen an die Stelle Gottes totalitäre Ideologien, die die gleiche Würde aller Menschen leugnen.[8]
- Die Frage nach einer gerechten Verteilung der Güter auf der Erde ist weiter ungelöst – was Kriege, Fluchtbewegungen und Umweltzerstörung zur Folge hat.
Mit anderen Worten: Wir brauchen Propheten dringender denn je! Natürlich ist keiner von uns ein Elija oder Jesaja. Doch mit der Predigt möchte ich Sie ermutigen, ihr eigenes „prophetisches Potenzial“ zu heben. Denn als Christen sind wir alle zur prophetischen Rede berufen: in der Taufe wurden wir gesalbt zu Königen, Priestern und Propheten. Vielleicht können meine Überlegungen, welche Eigenschaften und Haltungen ein Prophet oder eine Prophetin haben sollte, eine Hilfe sein, dass wir immer mehr zu prophetischen Menschen werden:
- indem wir immer mehr auf Gott hören
- indem wir die Spannung wahrnehmen zwischen der Welt, wie sie ist und der Welt, wie sie nach Gottes Willen sein sollte
- indem wir nach unserer Berufung fragen
- indem wir uns bemühen, authentisch zu sein
- indem wir unsere Angst überwinden, bei anderen anzuecken
Wer weiß – vielleicht ist ja einer unter uns, der so seine prophetische Berufung entdeckt. Und wer weiß – vielleicht hören wir dann eines Tages aus dem Mund dieses Propheten nicht nur Gottes Kritik, sondern auch Gottes Zuspruch: „Tröstet, tröstet mein Volk …“
Amen.
[1] 1 Kor 12,8-10
[2] vgl. 1 Kön 18
[3] vgl. Am 6,1-7 oder Am 8,4-7
[4] vgl. Jes 40,1
[5] vgl. Jer 1,4-10
[6] Vor allem an mangelnder Glaubwürdigkeit leidet m.E. die prophetische Kraft unserer Kirche: Wir predigen die Bewahrung der Schöpfung – und doch sind unsere Gemeindehäuser oft ungedämmt. Wir predigen soziale Gerechtigkeit – und doch verbaute ein Bischof vor ein paar Jahren Millionen in seiner Privatresidenz auf dem Limburger Domberg. Und am verheerendsten: Wir predigen die Liebe – und doch mussten Menschen in der Kirche sexuelle Gewalt und spirituellen Missbrauch erfahren.
[7] vgl. 1 Kön 19
[8] vgl. Überlegungen rechter Ideologen – einschließlich Vertretern der AfD – über „Remigration“ bei einem Treffen am 25.11.2023 in Potsdam, die erst durch Recherchen des Redaktionsnetzwerks Correctiv öffentlich wurden, siehe hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Treffen_von_Rechtsextremisten_in_Potsdam_2023