Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis C

von Diakon Tobias Riedel

Ein Maulbeerfeigenbaum. Foto: Wikipedia (gemeinfrei)

 

Evangelium: Lukas 19, 1-10

In jener Zeit

1 kam Jesus nach Jericho und ging durch die Stadt.

2 Und siehe, da war ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war reich.

3 Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei, doch er konnte es nicht wegen der Menschenmenge; denn er war klein von Gestalt.

4 Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste.

5 Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus bleiben.

6 Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf.

7 Und alle, die das sahen, empörten sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt.

8 Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von jemandem zu viel gefordert habe,
gebe ich ihm das Vierfache zurück.

9 Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.

10 Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.

 

Predigt

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Sicherlich erinnern Sie sich: Vor ein paar Wochen gingen russische Soldaten in den Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja von Haus zu Haus und führten sogenannte „Referenden“ über den Anschluss der Gebiete an Russland durch. Möglich war dies nur, weil zuvor ukrainische Kollaborateure Wählerlisten erstellt und die Abstimmungen logistisch vorbereitet hatten. In den Augen Präsident Selenskyjs und wohl der allermeisten Ukrainer sind diese Kollaborateure schlicht miese Verräter.

Ein solcher Kollaborateur begegnet uns auch im heutigen Evangelium: Die römischen Besatzer haben Zachäus, einen aus ihrer Sicht tüchtigen Mann aus dem jüdischen Volk, als obersten Zollpächter in Jericho installiert. Jahr für Jahr führt er eine stattliche Summe an den römischen Kaiser ab – um anschließend seinen Landsleuten durch allerlei kreative Steuern und Abgaben eine noch viel größere Summe abzupressen: Da gab es Grundsteuern, Haussteuern und Fenstersteuern, eine Ertragssteuer für Weinberge, eine Verbrauchssteuer für Salz, Zölle für Im- und Exporte, Markt-, Tor- und Wechselgebühren …[1] In den Augen der Schriftgelehrten und wohl der allermeisten Juden ist dieser Zachäus schlicht ein mieser Verräter.

Wie wird man Kollaborateur? Konkret gefragt: Was treibt Zachäus an, seinen Mitmenschen in den Rücken zu fallen, indem er mit den Mächtigen paktiert? Sicherlich, es ist ein einträgliches Geschäft – doch der Preis der sozialen Ächtung ist hoch … Der Evangelist Lukas bleibt eine Antwort auf diese Frage schuldig, doch er gibt uns immerhin einen Hinweis: Zachäus ist „klein von Gestalt“. Wer weiß, was er deshalb als Kind und als Jugendlicher erdulden musste, wie oft er gehänselt und ausgegrenzt wurde?

Ich erinnere mich noch gut an meinen eigenen Sportunterricht: Wenn wir Fußball spielen sollten, wurden zunächst Mannschaften gebildet. Abwechselnd wurden die Mitschüler in die eine oder andere Mannschaft gewählt. Am Schluss stand immer Sebastian in der Mitte: der Kleine, der Schwache, der Looser, der, der nichts konnte …

Vielleicht hat Zachäus ähnliches erlebt – und dann eines Tages beschlossen, die täglichen Demütigungen nicht mehr herunterzuschlucken: Jetzt würde er es allen zeigen, da sollten sie mal sehen! Jetzt würde er mit den Römern zusammenarbeiten und endlich auch mal was zu sagen haben. Sollten sie ihn doch um einen Steuernachlass anflehen – er würde hart und unnachgiebig bleiben. Das hatten sie nun davon!

Das Bild, das ich hier entwerfe, ist eine Spekulation – doch es lohnt sich, sich einmal in Zachäus einzufühlen und zu fragen, was ihn in die Arme der Römer treibt. Denn als Kollaborateur wird man nicht geboren, man wird eher dazu gemacht, und es bedarf dann viel innerer Stärke, um der Verlockung der Zusammenarbeit mit den Mächtigen zu widerstehen.

Eines Tages aber kommt Jesus nach Jericho. Die Nachricht elektrisiert die ganze Stadt. Auch Zachäus interessiert sich für den Rabbi aus Nazareth: „Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei“, heißt es im Evangelium. Doch natürlich kann sich Zachäus, der Außenseiter, nicht einfach unter das Volk mischen: Zum einen, weil ihm die Menschen ausweichen, ihn vielleicht sogar beschimpfen würden – und zum anderen, weil er dann zugeben müsste, dass auch er, der „harte Hund“, sich für Jesus interessiert. Also klettert Zachäus auf einen Maulbeerfeigenbaum. Dort, versteckt im Geäst hinter Blättern,[2] will er das Geschehen aus der Distanz verfolgen, unerkannt.

Doch Jesus erkennt ihn. Er erspäht Zachäus zwischen den Zweigen und erfasst sofort seine ganze Not, seine soziale Isolation, die ihn auf den Baum getrieben hat. Er bleibt stehen und spricht ihn an, stellt den Außenseiter[3] quasi in die Mitte – ein unerhörter Vorgang!

Was sagt Jesus zu Zachäus? Wenn Jesus so denken und fühlen würde, wie es in unserer Kirche über Jahrhunderte bis in unsere Tage hinein vermittelt worden ist, würde er vielleicht sagen: „Zachäus, du weißt, du bist ein Sünder. Geh in dich! Bereue deine Fehler und versuche, sie wieder gut zu machen! Dann wird dir vergeben werden.“

Doch – Gott sei Dank! – Jesus denkt und fühlt ganz anders: „Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus bleiben.“ Mit einem Schlag durchbricht Jesus die ganze Isolation des Zöllners – und lädt sich bei ihm zum Essen ein. Entscheidend ist: Die Gemeinschaft mit Jesus wird an keinerlei Vorbedingungen geknüpft – sie wird einfach geschenkt, ja geradezu aufgedrängt. Die Formulierung: „Ich muss heute in deinem Haus bleiben“, duldet keinen Widerspruch. Und die Umkehr des Zachäus, von der das Evangelium dann berichtet, ist eine Folge dieser geschenkten Gemeinschaft mit Jesus, nicht ihre Voraussetzung.

Was für eine frohe Botschaft! Das heutige Evangelium lehrt uns, was – mit einem etwas altmodischen Wort gesagt – Gnade ist: Gemeinschaft mit Gott wird nicht verdient, sondern geschenkt – trotz aller Schuld. Und unsere Umkehr ist nicht Voraussetzung für Gottes Liebe, sondern Folge unserer Erfahrung, von ihm geliebt zu sein.

Amen.

[1] vgl. Joachim Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, S. 346 f.

[2] Das Motiv erinnert an Gen 3,7: Adam und Eva machen sich einen Schurz aus Feigenblättern, damit ihre Nacktheit nicht erkannt wird.

[3] vgl. Mk 9,36

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