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Predigt zum 16. Sonntag im Jahreskreis

von Diakon Tobias Riedel

Klagemauer in Jerusalem. Der unter König Salomo gebaute erste Tempel wurde bei der Eroberung Jerusalems durch babylonische Truppen im Jahr 587 v. Chr. – zu Lebzeiten des Propheten Jeremia – zerstört. Nach der Rückkehr des Volkes Israel aus dem babylonischen Exil wurde ein zweiter Tempel erbaut, der bis zur erneuten Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Bestand hatte. Nur die Klagemauer ist von ihm noch übrig … Foto: Pixabay

 

Erste Lesung: Jer 23, 1-6

1 Weh den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen – Spruch des Herrn.

2 Darum – so spricht der Herr, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und sie versprengt und habt euch nicht um sie gekümmert. Jetzt kümmere ich mich bei euch um die Bosheit eurer Taten – Spruch des Herrn.

3 Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe. Ich bringe sie zurück auf ihre Weide und sie werden fruchtbar sein und sich vermehren.

4 Ich werde für sie Hirten erwecken, die sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und ängstigen und nicht mehr verloren gehen – Spruch des Herrn.

5 Siehe, Tage kommen — Spruch des Herrn —, da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land.

6 In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, Israel kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.

 

Evangelium: Mk 6, 30-34

In jener Zeit

30 versammelten sich die Apostel, die Jesus ausgesandt hatte, wieder bei ihm und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten.

31 Da sagte er zu ihnen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus! Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen.

32 Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein.

33 Aber man sah sie abfahren und viele erfuhren davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an.

34 Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange.

 

Predigt

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Im Gottesdienst sind die Lesung aus dem ersten Testament und das Evangelium in aller Regel aufeinander bezogen. Auch heute ist das so: Der jüngere Text aus dem Markus-Evangelium erschließt sich in Gänze erst, wenn man ihn vor dem Hintergrund des älteren Textes aus dem Buch Jeremia liest.

Schauen wir zunächst auf die ersttestamentliche Lesung. Der geschichtliche Kontext ist der scheinbar unaufhaltsame Zerfall des Großreichs Israel, über das König David und König Salomo einst[1] geherrscht hatten. Nach ihrem Tod war es zunächst in ein Nord- und ein Südreich zerfallen. Unter den Schlägen der Assyrer geht das Nordreich im Jahr 722 v. Chr. unter. Und nochmals gut 100 Jahre später, zu Lebzeiten des Propheten Jeremia, droht auch dem Südreich der Untergang durch eine andere Militärmacht aus dem Osten: Babylon.

Jeremia sieht die Katastrophe kommen. Und für ihn ist klar: Diese negative Entwicklung ist eine Folge des Abfalls des Volkes Gottes von JHWH.[2] Unablässig mahnt er seine Zeitgenossen, dem HERRN und seinen Geboten treu zu bleiben. Er kritisiert in drastischen Bildern vor allem die politische und religiöse Führungsschicht, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sei. Wir haben es gerade gehört:

Weh den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen! Spruch des Herrn: Ihr habt meine Schafe zerstreut und sie versprengt und habt euch nicht um sie gekümmert – jetzt kümmere ich mich bei euch um die Bosheit eurer Taten.

Das ist harter Tobak: Jeremia droht dem Königshaus und den Priestern am Jerusalemer Tempel die Strafe JHWHs an, weil sie ihrer Sorge für das Volk nicht gerecht geworden sind. Auf mich wirkt der Text erschreckend aktuell: Auch heute gibt es weltweit genug Mächtige in Politik, Wirtschaft und Kirche, die sich einen Dreck darum scheren, welche Konsequenzen ihr Handeln für die einfachen Menschen oder die Schöpfung hat. Beispiele erspare ich Ihnen – sicherlich fallen Ihnen genug Namen ein.

Gleichzeitig aber spricht Jeremia dem Volk Mut zu: Gott selbst wird sich – so sein Versprechen – um die Menschen kümmern, indem er neue, gute Hirten beruft. Das klingt dann so:

Spruch des Herrn: Ich selbst sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe. Ich bringe sie zurück auf ihre Weide und sie werden fruchtbar sein und sich vermehren. Ich werde für sie Hirten erwecken, die sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und ängstigen und nicht mehr verloren gehen.

Jeremia ist überzeugt: JHWH kennt das Leid seines Volkes. Er leidet mit. Und er sieht nicht tatenlos zu, sondern handelt – indem er Menschen in seinen Dienst ruft. Ein erstaunlich modernes Gottesbild, finde ich!

Der Abschnitt aus dem Buch Jeremia endet mit einer Vision:[3] Eines Tages – davon ist Jeremia überzeugt – wird ein neuer König seine Herrschaft antreten. Er wird weise und gerecht handeln und für Frieden und Sicherheit sorgen. Kurz: Eines Tages wird ein neuer König auftreten, gesandt von JHWH. Ein neuer David … In dieser Vision spiegelt sich die Sehnsucht des Volkes Israel nach dem Messias – eine Sehnsucht, an der es in bewundernswerter Treue zu JHWH bis heute festhält.

Aus unserer christlichen Perspektive jedoch begegnet uns genau dieser von Jeremia herbeigesehnte Messias im heutigen Evangelium: Jesus. Für die ersten Christen war die Sache klar: Natürlich kannten sie die ersttestamentlichen Schriften, auch das Buch Jeremia – es ist ihre Bibel! Und so deuten sie die Erfahrungen, die sie mit Jesus machen, im Licht der alten Texte. Oder umgekehrt: Sie lesen die alten Schriften auf Christus hin. Als ob die Autoren das Kommen Jesu vorausgeahnt hätten …

Inwieweit erweist sich nun Jesus als der ersehnte Messias, der „neue David“? Jesus engagiert sich – anders als die Könige und Propheten zur Zeit Jeremias – bis zur Erschöpfung für die Menschen. Er erzählt ihnen in Gleichnissen von JHWH, mit dem er „auf Du und Du“ lebt, und heilt ihre körperlichen und seelischen Leiden. Er kümmert sich um sie, wie sich ein guter Hirt um seine Schafe kümmert – weil er die Menschen liebt. Und er beruft Menschen in seine Nachfolge, die es ihm gleichtun sollen: damals die Apostel, heute uns.

Doch Berufung zur Nachfolge Jesu kann mitunter ganz schön anstrengend sein. Jesus weiß das: Im Evangelium haben wir gehört, dass er die Apostel einlädt, sich von ihrer täglichen Seel-Sorge für die Menschen auszuruhen: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus!“ Diese Einladung gilt auch uns, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Jesu von heute. Er gönnt auch uns eine Atempause. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gesegnete Sommerferien – damit wir anschließend gemeinsam mit ihm mit neuer Kraft am Reich Gottes weiterbauen können.

Amen.

[1] ca. 1.000 v. Chr.

[2] sog. Tun-Ergehens-Zusammenhang

[3] Jer 23, 5-6

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