von Pastor Stefan Krinke
Evangelium: Johannes 15, 9-17
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern:
9 Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!
10 Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.
11 Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird.
12 Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe.
13 Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.
14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.
15 Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.
16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet.
17 Dies trage ich euch auf, dass ihr einander liebt.
Predigt
Der Ruf der „Freien deutschen Jugend“ (FDJ) in der DDR lautete „Freundschaft“. Unzählige Male musste ich ihn bei Fahnenappellen dem Direktor der Schule oder der obersten FDJ-Sekretärin entgegenrufen. Nicht selten grummelten wir nur etwas in uns hinein, boykottierten den Aufruf zum lautstarken Rufen – und mussten ihn nochmals rufen. Ich mag gar nicht daran denken, wem ich alles mit diesem Ruf meine Freundschaft erklären musste … Von diesen Erfahrungen geprägt, versuche ich eine andere Sicht:
Man sagt, die Griechen seien das Volk der Freundschaft gewesen. Zumindest war sie dort ein hohes Ideal. So haben griechische Philosophen wunderbare Gedanken über die Freundschaft formuliert. Zum Beispiel Aristoteles: „Was ist ein Freund? Eine einzige Seele, die in zwei Körpern wohnt.“
Die Worte, die Jesus über die Freundschaft sagt, fügen sich nahtlos ein: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe“ (Joh 15,15).
Zur Freundschaft gehört Vertrauen und das Sich-Vertraut-Machen. Jesus hat sich mit seinen Jüngern vertraut gemacht. Er hat mit ihnen sein Innerstes geteilt. Er hat sie nicht als unmündige Schüler behandelt, denen er lediglich Lehrsätze vermittelte oder Handlungsanweisungen gab. Vielmehr hat er ihnen das mitgeteilt und Anteil geschenkt an dem, was sein tiefstes Geheimnis war, nämlich all das, was er von Gott, seinem Vater, gehört und in seinem Herzen gespürt hat. So gehören die Worte Jesu über die Freundschaft aus dem Johannesevangelium mit zu den schönsten Texten. Als Jüngerin oder Jünger Jesu heute wird mir klar: Es geht nicht allein um Nachfolge, sondern um echte Freundschaft.
Vor allem der Tod Jesu am Kreuz bekommt im Johannesevangelium eine besondere Färbung. Er ist ein Freundschaftsdienst. Johannes will uns einladen, das Kreuz unter diesem Aspekt anzuschauen, dass es einen Freund gibt, der uns bedingungslos liebt, der sein Leben aufs Spiel setzt und sich bis zuletzt für uns einsetzt. Die Bilder von Sünde und Strafe, die wir oft genug in Verbindung mit dem Kreuz hören, können wir einmal beiseitelassen und einzig das Bild der Freundschaft auf uns wirken lassen. Dann geht uns vermutlich leichter das Geheimnis der Liebe am Kreuz auf.
Christen zu allen Zeiten haben immer wieder versucht, dieser unergründlichen Liebe nachzugehen. So finden wir Zeugnisse bei den Mystikern des Mittelalters, die ihr Augenmerk ebenfalls nicht auf das Leiden Jesu gelenkt haben, wie andere Heilige dies in fast selbstzerstörerischer Art taten. Nein, sie wollten sehr konkret die Liebe Jesu spüren und ihm ähnlich werden, indem sie darüber meditierten. Und das gelang ihnen sicher auch dadurch, dass sie im Licht der Texte des Johannesevangeliums auf das Kreuz schauten.
Darin kann uns das Geheimnis der Freundschaft, ja vielleicht sogar das Geheimnis unseres Lebens aufgehen: Jesus hat gerade mich zum Freund, zur Freundin gewählt – und dass, obwohl ich mich selbst manchmal nicht aushalten kann. Er hat mich zum Freund, zur Freundin gewählt, damit ich mit mir selbst freundlicher umgehe. Denn „ohne Freund“, sagt Augustinus, „kommt einem nichts freundlich vor in dieser Welt.“