von Diakon Tobias Riedel
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Wenn wir auf die vielen Krisen in der Welt schauen, kann einem Angst und Bange werden: Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt, täglich sterben Menschen oder müssen fliehen. Der Klimawandel schreitet fort, trocknet ganze Landstriche aus, Extremwetterereignisse häufen sich. Und die soziale Ungleichheit auf unserem Planeten nimmt eher zu als ab, die Zahl der Hungernden wächst. All diese und viele weitere Probleme sind eng miteinander verknüpft. Wir spüren: Unser Leben ist komplex – es ist zerbrechlich – es ist bedroht.
In solchen Situationen sehnen sich viele Menschen nach einem Gott, der machtvoll in den Lauf der Dinge eingreift. Das spiegelt sich schon im Ersten Testament. Im Buch Jesaja etwa heißt es: „Wach auf, wach auf, bekleide dich mit Macht, Arm des HERRN! Wach auf wie in den früheren Tagen, wie bei den Generationen der Vorzeit!“[1] Viele ähnliche Belegstellen ließen sich finden. Die Sehnsucht nach einem Gott, der die Welt wie die Götter in der antiken Tragödie „Deus ex Machina“ wieder in Ordnung bringt, wenn die Menschen nicht mehr weiterwissen, ist groß, damals wie heute.
Die christliche Theologie betrachtet ein solches Gottesbild mit Skepsis – mit guten Gründen. Schließlich hat doch – so glauben wir – der HERR selbst die Welt und mit ihr alle Naturgesetze geschaffen und für gut befunden.[2] Weshalb sollte er eben diese Gesetze nach Belieben außer Kraft setzen? Zwar kenne auch ich den schönen Satz von David Ben Gurion: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Doch ein eindimensionales Eingreifen Gottes hatte Ben Gurion dabei sicherlich nicht vor Augen … Nein, angesichts der Krisen unserer Zeit auf ein Wunder zu hoffen wäre unrealistisch, ja: unverantwortlich.
Hat Gott die Welt also zwar einst ins Dasein gesetzt, dann aber sich selbst überlassen? Hat er sich aus seiner Schöpfung zurückgezogen und überlässt den Planeten nun seinem Schicksal? Viele Menschen denken so – der christliche Glaube aber lehrt genau das Gegenteil! Gott ist unermüdlich in seiner Schöpfung am Werk, denn er ist leidenschaftlich für das Wohl seiner Geschöpfe engagiert. Dafür braucht er allerdings die Naturgesetze nicht außer Kraft zu setzen – sein Einfallstor in die Welt sind die Herzen und Hirne der Menschen. Täglich inspiriert Gottes guter Geist Menschen zum Guten, Christen wie Nichtchristen: Er schenkt Weisheit und Erkenntnis. Er ermöglicht Versöhnung und Umkehr. Er treibt an zur tätigen Nächstenliebe und zum Engagement für Schwächere. Genau das ist ein wichtiger Aspekt des Pfingstfestes, mir persönlich der wichtigste: Wir feiern Gottes bleibende Präsenz in der Welt – die sich darin äußert, dass er Herz und Verstand der Menschen anspricht. So – nicht triumphal, sondern ganz unspektakulär, im Kleinen – verwandelt Gott die Welt, setzt er das Schöpfungswerk täglich fort. Mitunter werden so Wunder wahr …
Allerdings macht sich Gott auf diese Weise vom Menschen abhängig: Voraussetzung dafür, dass er in der Welt wirken kann, ist, dass die Menschen Herz und Verstand für seinen guten Geist öffnen. „Das ist typisch Gott!“, könnte man sagen: Er, der leidenschaftlich Liebende, zwingt nicht – behutsam redet er uns zu Herzen, immer hoffend, dass wir seine leise Stimme im Stimmengewirr unserer Zeit hören. Deshalb ist es so wichtig, dass wir immer wieder die Stille suchen – damit Gott zu uns sprechen kann. Wie oft vergessen wir, dass Beten vor allem Hören bedeutet: „Rede, HERR, dein Diener hört!“[3], sagt der Prophet Samuel zum HERRN, als er die Stimme Gottes vernimmt. In unserem Beten ist es leider oft genau umgekehrt: „Höre, HERR, dein Diener redet …“ Üben wir uns also im Hören – damit Gott zur Welt kommen kann – damit Pfingsten werden kann.
Amen.[4]
[1] Jes 51,9
[2] Gen 1,30
[3] 1 Sam 3,10
[4] Gehalten am 04.06.2022 in Großhansdorf, am 05.06.2022 in Ahrensburg und am 06.06.2022 in Bargteheide. Außerdem veröffentlicht am 03.06.2022 auf www.sankt-ansverus.de.