Seit vorigen Samstag bin ich zurück aus Kanada, dem flächenmäßig zweitgrößten Land der Erde mit vier Zeitzonen vom Atlantik im Osten bis zum Pazifik im Westen. Als ich Mitte Mai dort ankam, war mein erster Eindruck: hier ist alles groß – die Straßen, die Autos, die Züge, die Häuser, die Betten, die Essensportionen im Restaurant, die Kühlschränke, die Waschmaschinen, die Geschäfte, die Seen, die Wälder (und die Brände), die Berge, die Prärie…
Mein zweiter Eindruck: es gibt gar keine „richtigen“ Kanadier. Alle sind entweder die Nachkommen von Immigranten oder in jüngerer Zeit selbst eingewandert. Auf den Straßen, in den Bussen und Zügen, in den Geschäften begegnen einem Menschen unterschiedlichster Herkunft und in allen Hautfarben, aber alle sprechen dieselbe Sprache und jeder redet mit jedem. Ein buntes multikulturelles Volk vereint unter dem Maple Leaf!
Mein dritter Eindruck: Alle Kanadier sind freundlich, hilfsbereit und entspannt: Ein kurzer Small-Talk an der Kasse im Museum oder im Geschäft ist immer drin. – Autofahrer halten an, damit ich die Straße überqueren kann, auch da, wo kein Zebrastreifen sie dazu auffordert. – Passagiere im Bus bedanken sich beim Aussteigen bei ihrem Fahrer. – Geduldig warten die Menschen in der Sommerhitze am Eis-Kiosk. – Die Verkäuferin hinter der Ladentheke schenkt mir ein freundliches Lächeln, auch wenn es gerade ganz schön stressig ist. – Überall höre ich: Thank you! – Your are welcome! – Sorry! – No worries! – How is your day going?
Das alles fasziniert mich. Und hier darf ich die nächsten 8 Wochen verbringen, neue Erfahrungen sammeln und meine „Schatzkiste“ mit besonderen Erlebnissen und Begegnungen füllen.
Der Grund meiner Reise war ein vierwöchiger Aufenthalt in der L’ Arche Daybreak
Früher hätte ich diesen Ort als eine „Einrichtung für Menschen mit Behinderungen“ bezeichnet. Aber das stimmt so nicht. Er ist viel mehr als das. Er ist ein Ort mit einem ganz besonderen „Way of Life“. Auf der Homepage findet man folgendes Identity-Statement:
„We are people, with and without developmental disabilities, sharing life in communities belonging to an international federation. Mutual relationships and trust in God are at the heart of our journey together. We celebrate the unique value of every person and recognize our need of one another.“
Übersetzt: „Wir sind Menschen mit und ohne Entwicklungsbehinderungen, die ihr Leben in Gemeinschaften teilen, die zu einem internationalen Verband gehören. Gegenseitige Beziehungen und Vertrauen in Gott stehen im Mittelpunkt unseres gemeinsamen Weges. Wir feiern den einzigartigen Wert eines jeden Menschen und erkennen an, dass wir einander brauchen.“
Wow – was für eine Aussage!
Ich war etwas aufgeregt, als ich an dem Sonntagabend auf dem Pearson International Airport in Toronto landete. Ich kannte niemanden in der L’ Arche Daybreak. Mit Steve, dem Verantwortlichen für Gäste, hatte ich ein paar E-Mails gewechselt und mit Anne, der Verantwortlichen für die Volontäre, hatte ich einmal in einer Videokonferenz ein paar Eckpunkte für meinen Aufenthalt besprochen. Das war’s. Diese wenigen Kontakte waren sehr freundlich gewesen. Doch jetzt war ich da, etwas unsicher und mit Fragen: Worauf lasse ich mich hier ein? Was kommt da auf mich zu? Werde ich zurechtkommen?
Steve holte mich vom Flughafen ab. Er hatte Amanda, eine der Core-Members (so werden die Menschen mit Behinderung in der Arche-Gemeinschaft genannt) mitgebracht. Amanda, eine Frau mit Downsyndrom, hat mit ihrer einzigartigen Gabe, offen, unvoreingenommen und freundlich auf Menschen zuzugehen alle meine aufkommenden Bedenken sofort zerstreut. Ich kann mich nicht erinnern, jemals von Fremden so herzlich empfangen worden zu sein. Wenn das so weiterging, würde alles gut!
In L’ Arche Daybreak wurde ich dem „Green-House“ zugeordnet. Hier leben Tim, Helen, Joey, Adam und Patrick als Core-Members zusammen mit ihren Assistenten Agnes aus Indien, Oumayma aus Marokko, Michael aus Syrien und Fabian aus Deutschland. Maria aus Syrien ist die Hausleiterin, Heidi aus Kolumbien unterstützt die Assistenten an zwei Tagen die Woche und für die Nachtwache kommt Support von einer Pflegeagentur. Freunde des Green-House kommen je nach ihren Möglichkeiten wöchentlich oder monatlich zu Besuch, zum gemeinsamen Kochen und Essen am großen Tisch. Insgesamt acht solcher Wohngemeinschaften gibt es in der L‘ Arche Daybreak.
Viele Geschichten aus diesen Wochen wären zu erzählen. Nur eine möchte ich hier teilen. Jeden Montag versammelt sich die ganze Gemeinschaft der L’ Arche Daybreak zu einem einfach gestalteten Gottesdienst in der Kapelle „Dayspring“. Dazu sind auch Menschen aus der Nachbarschaft, Freunde und Verwandte eingeladen.
Der Gottesdienst beginnt jedes Mal mit demselben Eröffnungsgebet und endet mit demselben Schlussgebet. Diese beiden einfach formulierten Gebete werden von Steve und Christine (Core-Member) vorgebetet und angeleitet.
Es hat mich tief bewegt, wenn Christine laut und aus tiefstem Herzen vorbetete und uns zur gemeinsamen Antwort aufforderte. „God speaks to us – In ways that we can understand.“ Christine hat mir geholfen, neu zu sehen. Sie hat mir meine Augen geöffnet, damit ich entdecke, auf welche Weise Gott mitten im Alltag zu mir spricht.
- Plötzlich erkenne ich im Lächeln der Verkäuferin hinter der Ladentheke oder in Amandas herzlichem Willkommen auf dem Flughafen Gottes Freundlichkeit.
- In der Zuneigung der Assistenten und Core-Members füreinander spüre ich Gottes Vertrauen in uns.
- Durch eine Passantin, die mir hilft zu verstehen, warum der Bus heute an dieser Haltestelle nicht kommt und ich auf eine andere Linie ausweichen muss, sehe ich Gottes Fürsorge.
- Auf der Fahrt durch die schneebedeckten majestätischen Rocky Mountains oder bei der atemberaubenden Begegnung mit den Humpbacks auf der Whale-Watching-Tour zeigt Gott mir seine Größe und Herrlichkeit.
- Durch die Geschichte der jungen Frau im Bus auf der Fahrt nach Hause erkenne ich, dass Gott Neuanfänge ermöglicht.
Ich könnte noch viele Beispiele ergänzen.
„God speaks to us – in ways that we can understand.“
Zum Abschluss des Gottesdienstes wird ein ähnlich einfaches Gebet gesprochen. „God is at home in us.“ Einfacher geht es kaum, aber gerade darum spricht es mich an.
Wenn Gott mit seiner Güte, seiner Liebe, seiner Barmherzigkeit und seiner Gerechtigkeit in uns zu Hause ist, heißt das ja, dass Gott durch uns zu unseren Mitmenschen sprechen möchte und dass sie ihm durch uns begegnen können. Was ist das für eine große Ehre!
Die Erkenntnis, dass Gott zu uns und durch uns spricht, ist mir nicht neu. Wie oft habe ich es in der Katechese den Kommunionkindern oder den Firmlingen genau so erklärt. Aber in der L’ Arche Daybreak ist diese Erkenntnis durch Christines Gebet vom Kopf ins Herz gerutscht und das macht einen Riesenunterschied.
Mit diesem Wochenende beginnen die Ferien. Viele gehen auf Reisen, suchen Erholung oder möchten etwas Neues kennenlernen. Vielleicht entdecken sie dabei, dass Gott zu ihnen spricht, im Reichtum der Schöpfung, durch Zeichen und Wunder, im täglichen Leben und auf eine Weise, die sie verstehen können.
Reisesegen
Gott mache Euch das Herz leicht und froh.
Gott schenke Euch freundliche Gastgeber
und ein herzliches Willkommen,
wohin Euer Weg auch führt.
Gott gebe Euch jeden Tag
viele Gelegenheiten zum Staunen.
Gottes Freundlichkeit werde sichtbar
in Euren Augen und durch Euer Handeln.
Gott schenke Euch eine sichere Heimkehr
und uns allen ein fröhliches Wiedersehen.
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