von Marita Kremper
Evangelium Joh 10,11-18
In jener Zeit sprach Jesus:
11 Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
12 Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht; und der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Er flieht,
13 weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.
14 Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,
15 wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.
16 Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.
17 Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen.
18 Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.
Impuls
„Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.“
Jemanden kennen heißt mit jemandem vertraut sein und jemanden erkennen heißt etwas im anderen entdecken, das mir vertraut ist und das der andere mich erkennen lässt. Dieses Vertrautsein spricht von einer sehr tiefen Beziehung zueinander.
In unserem alltäglichen Leben gibt es unterschiedlichen Ebenen von Kennen:
ich kenne den Nachbarn, der in der Nähe wohnt und immer freundlich grüßt,
ich kenne auch die Nachbarin, von der ich schon mal etwas Ausleihen konnte, mit der ich schon öfters über den Garten und die Ernte erzählt habe,
ich kenne Freunde, mit denen wir uns regelmäßig treffen und wir umeinander und unsere Situationen wissen,
ich kenne eine Freundin, mit der ich viele Jahre befreundet bin. Da ist das Kennen tiefer und vertrauter als bei oberflächlichen Bekanntschaften.
Einander wirklich kennen, wie z.B. in der eigenen Familie ist ein sehr vertrautes Kennen. Als Geschwister zusammen aufzuwachsen, bedeutet Freud und Leid miteinander zu erleben und mitzutragen; bedeutet als Eltern die Kinder auf ihrem Weg zu begleiten, zu behüten und zu beschützen. Eltern sind daran interessiert ihrem Kind die besten Möglichkeiten zu eröffnen, um später selbstständig und verantwortungsvoll das Leben zu meistern, ja, auch glücklich zu werden. Eltern kennen die Stärken und Schwächen ihrer Kinder und lieben sie so wie sie sind. Die Beziehungen sind, wenn alles gut läuft, untereinander vertraut und warmherzig.
Um das Kennen und um das Vertrautsein geht es auch im heutigen Evangelium am Sonntag des „Guten Hirten“.
Ein Hirt kennt seine eigenen Schafe und er möchte, dass sie gute Weide finden, dass sie wachsen und Nachkommen haben, dass sie stark werden, Fleisch und gute Wolle geben.
Ein Hirt sorgt sich um die Schafe, ob sie gesund sind, ob eines fehlt und sich verirrt hat. Er gibt acht, dass kein Wolf seiner Herde zu nahekommt und eines der Schafe reißt.
Ein Hirt kennt jedes einzelne Schaf. Er ist beständig bei seiner Herde, führt sie und achtet darauf, dass sie zusammenbleiben.
Jesus benutzt das Bild des guten Hirten, weil dies für seine Zuhörer der damaligen Zeit ein geläufiges und bekanntes Bild war, an dem er deutlich machen konnte, worum es ihm geht.
In einem Bibellexikon heißt es dazu: „Da im Altertum die Wirtschaft hauptsächlich aus Ackerbau und Viehzucht bestand wurde der Hirte zu einem häufig verwendeten Bild der Gottheit, des Königs und der Obrigkeit im Allgemeinen.“ [1] Dabei benutzt das AT das Bild des Hirten für „JHWE“, zum Beispiel im wohl bekanntesten Psalm 23, der dem König David zugeschrieben wird:
Ein Psalm Davids. Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Meine Lebenskraft bringt er zurück. Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit, getreu seinem Namen.
Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich.
Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, übervoll ist mein Becher.
Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN für lange Zeiten.“ (Psalm 23,1-6)
Hier ist „JHWE“ (der „Ich-bin“, wie er sich bei Mose zu erkennen gegeben hat, Ex 3,14) der gute Hirt, über den der Beter des Psalms, wie in einer sehr idyllischen Vision, ein Behütet- und Genährt-werden beschreibt und gleichzeitig betet und besingt. Dieser Beter ist sich sicher, so ist „JHWE“, darauf kann er sich verlassen. Er „JHWE“ ist keiner der üblichen Herrscher, die nur darauf aus sind, ihr eigenes Wohl zu fördern, aber nicht das Wohl derer im Blick haben, die ihnen anvertraut sind. Dieser Hirte wird sich um ihn kümmern, er braucht sich um nichts zu sorgen, selbst wenn er in eine ausweglose Situation gerät, er fühlt sich nicht allein, denn er hat den besten Beistand bei sich, den er sich vorstellen kann, immer, jeden Tag. So ist „JHWE“. Und so soll ein Hirte sein, der seine Herde verantwortungsvoll führt.
Im Alten Testament wird im Buch des Propheten Jeremia den Führern des Volkes vorgeworfen, dass sie ihr Hirtenamt vernachlässigt haben: „Die Priester fragten nicht: Wo ist der HERR? Die Hüter der Weisung kannten mich nicht, die Hirten des Volkes wurden mir untreu. Die Propheten prophezeiten bei Baal und liefen unnützen Götzen nach.“ (Jer 2,8) [2]
So ist „JHWE“ nicht. Im Gegenteil, „JHWE“ ist der gute Hirt, wie von König David im Psalm 23 beschrieben.
Dieses für die damaligen Menschen bekannte Bild greift Jesus im heutigen Evangelium auf und sagt von sich selbst: „Ich bin der gute Hirt.“ Und er erweitert, vertieft und präzisiert dieses Bild noch: „ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne“.
So vertraut und warmherzig wie die Beziehung Jesu zu seinem Vater ist, so ist sie auch zu denen, die zu Jesus gehören. Darauf können auch wir uns verlassen, wenn wir ihm folgen. Jesus ist der gute Hirt, auch für Sie und mich. Er kennt uns und er weiß um uns, und dann erkennen wir auch ihn und seine Stimme. Und in den Jahren, in denen ich ihm folge, hat sich dieses Kennen und Erkennen vertieft, wie in einer vertrauten Beziehung, einer Freundschaft oder in der Geborgenheit der Familie.
Manchmal berührt mich etwas, als ob mich jemand an etwas sehr Tiefes und Wichtiges in mir erinnert. Oft sind die Stimmen und Rufe um mich herum und in mir drin zu laut, so dass ich den inneren Klang nicht gut hören kann. Dann braucht es Zeit und Muße diesem inneren Berührt-Sein, dieser inneren Stimme nachzulauschen. Das betrifft Situationen des Alltags, Begegnungen und Gespräche genauso, wie auch die soeben gehörten Texte des Psalms oder des Evangeliums.
Ja, manchmal ist es das Rauschen des Windes, die Strahlen der Sonne, die Wogen des Meeres oder das Zwitschern der Vögel jetzt im Frühling, die eine seltsame Sehnsucht auslösen können. Das was ich wirklich brauche, im Herzen und in der Seele, das weiß dieser Hirt am besten. Und wo ich „Weide“ finden kann und genährt werde, da führt er mich hin und nicht nur mich, sondern auch Sie, wenn Sie das wollen.
Das wünsche ich Ihnen und mir an diesem Sonntag des guten Hirten, dass wir Weide finden und in Sicherheit leben können. Dann können auch wir hingehen und anderen von diesem Reichtum erzählen.
[1] Bibellexikon, Lizenzausgabe Büchergilde Gutenberg, 1992, S. 218
[2] Bibellexikon, Lizenzausgabe Büchergilde Gutenberg, 1992, S. 218