Predigt zum 1. Advent

von Diakon Tobias Riedel

Foto: Dr. Schitky / pixelio.de

Erste Lesung: Jes 63,16b-17.19b; 64,3–7

63,16b Du, Herr, bist unser Vater, „Unser Erlöser von jeher“ ist dein Name.

17 Warum lässt du uns, Herr, von deinen Wegen abirren und machst unser Herz hart, sodass wir dich nicht fürchten?

Kehre zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbbesitz sind!

19b Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen, sodass die Berge vor dir erzitterten.

64,3 Seit Urzeiten hat man nicht vernommen, hat man nicht gehört; kein Auge hat je einen Gott außer dir gesehen, der an dem handelt, der auf ihn harrt.

4 Du kamst dem entgegen, der freudig Gerechtigkeit übt, denen, die auf deinen Wegen an dich denken. Siehe, du warst zornig und wir sündigten; bleiben wir künftig auf ihnen, werden wir gerettet werden.

5 Wie ein Unreiner sind wir alle geworden, unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid. Wie Laub sind wir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind.

6 Niemand ruft deinen Namen an, keiner rafft sich dazu auf, festzuhalten an dir. Denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen und hast uns zergehen lassen in der Gewalt unserer Schuld.

7 Doch nun, Herr, du bist unser Vater. Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer, wir alle sind das Werk deiner Hände.

 

Predigt

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Mit einem Abschnitt aus dem Buch Jesaja starten wir in den Advent. Der Text ist rund 2500 Jahre alt – und doch heute genauso aktuell wie damals. Ich lade Sie ein, den Text gemeinsam mit mir zu betrachten.

Der historische Hintergrund des Buches Jesaja ist das kollektive Trauma des Babylonischen Exils. Machen wir uns die Situation des Volkes Israels damals einmal klar: Das eigene Heer – vernichtend geschlagen. Der Tempel in Jerusalem – in Trümmern. Die komplette arbeitsfähige Bevölkerung – nach Osten deportiert. Und Gott? Er will oder kann offenbar nicht helfen. Bis zur Shoah im 20. Jahrhundert galt das Babylonische Exil – die Golah – als die größte Katastrophe in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Wenn ich auf unsere heutige Situation schaue, kommt sie mir kaum besser vor: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine tobt noch immer. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern eskaliert mit Exzessen der Gewalt. Der soziale Friede in unserem Land ist bedroht. Die Demokratie zeigt Risse. Die Kirche hat ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verspielt. Und unser Planet steuert auf den Klima-Kollaps zu, doch wir können uns noch nicht mal auf ein Tempolimit einigen …

In solchen Situationen voller Hoffnungslosigkeit stellen Menschen Fragen – damals wie heute. Im Buch Jesaja heißt es:

Warum lässt du uns, Herr, von deinen Wegen abirren und machst unser Herz hart, sodass wir dich nicht fürchten? [1] Mit anderen Worten: Wie ist es nur möglich, dass Menschen sich so etwas antun und Gottes Weisung so mit Füßen treten?

Weiter heißt es im Buch Jesaja: Kehre zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbbesitz sind! [2] In moderner Sprache: Warum hast du, Gott, die Menschheit verlassen? Kümmere dich um uns, wir sind doch deine Kinder!

Und schließlich: Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen, sodass die Berge vor dir erzitterten. [3] Heute würden wir sagen: Warum greifst du nicht machtvoll ein und setzt der Gewalt und allen Katastrophen ein Ende?

Wir müssen – wieder einmal – erkennen: Gott ist der ganz Andere: [4] Wir müssen anders über ihn denken, größer von ihm denken. Die heutige Lesung aus dem Buch Jesaja weist uns mit drei Stichworten den Weg:

Gleich zu Beginn heißt es: Du, Herr, bist unser Vater. Mit dem Bild des Vaters ist eine Beziehung angesprochen: Ein Vater – wenn er einigermaßen normal tickt – setzt seine Kinder nicht einfach in die Welt und überlässt sie dann ihrem Schicksal. Nein, er fühlt sich bleibend verantwortlich und sorgt für sie. Jesus wird genau dieses Bild später aufgreifen, wenn er seine Jünger beten lehrt: „Vater unser im Himmel …“ [5] Dem Eindruck, Gott habe sein Volk – die Menschheit – verlassen, tritt das Buch Jesaja so entschieden entgegen.

Sodann nennt der Text einen Gottesnamen: „Unser Erlöser von jeher“ ist dein Name. Mit dem Begriff Erlöser oder Löser [6] ist die jüdische Rechtsinstitution des Goel angesprochen. Ein Goel – das ist ein naher Verwandter, der die Aufgabe hat, seine Angehörigen freizukaufen, wenn sie in Sklaverei geraten. [7] So, meint das Buch Jesaja, sollten wir von Gott denken: Er ist einer, der die Menschen in Freiheit setzt, ihre Schuld nicht anrechnet. Aus christlicher Sicht ist Jesus der Goel schlechthin. Im Brief an die Kolosser spielt Paulus darauf an, wenn er schreibt: Er [Christus] hat den Schuldschein, der gegen uns sprach, durchgestrichen und seine Forderungen, die uns anklagten, [in der Taufe] aufgehoben. [8]

Schließlich endet die heutige Lesung wie folgt: Doch nun, Herr, du bist unser Vater. Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer, wir alle sind das Werk deiner Hände. Auch mit diesem Bild vom Töpfer und seinem Ton ist – ähnlich wie mit dem Bild vom Vater und seinen Kindern – eine Beziehung ausgedrückt. Gott ist es, der den Menschen nach seinem Bild [9] formt – und die Aufgabe des Menschen besteht darin, sich formen zu lassen. Manche Zeitgenossen erschrecken, wenn Sie das hören: Wir wollen heute doch autonom sein, sich formen zu lassen scheint diesem Bedürfnis nach Selbstbestimmung zu widersprechen. Doch wir brauchen keine Angst davor zu haben: Gott hat jeden von uns ins Leben gerufen, er kennt uns durch und durch, [10] jeder Mensch ist ein unverwechselbares Unikat, von Gott individuell geformt. Und dieser Prozess ist ein Leben lang nicht abgeschlossen. Gott arbeitet täglich weiter an uns, unendlich behutsam, wenn wir ihn nur lassen – wir dürfen, ja: wir sollten uns ihm anvertrauen, auf ihn hören und uns so von ihm formen lassen. [11]

Gott – der Vater. Gott – der Löser. Gott – der Töpfer. Die heutige Lesung aus dem Buch Jesaja lehrt uns, größer von Gott zu denken. Ich wünsche uns allen mit diesem Text einen guten Start in den Advent.

Amen.

[1] Jes 63,17

[2] ebd.

[3] Jes 63,19b

[4] Karl Barth

[5] vgl. Mt 6,9

[6] Martin Buber übersetzt Jes 63,16b wie folgt: „DU selber bist unser Vater, / Unser-Löser-seit-Urzeit dein Name!“

[7] vgl. Ps 116,16 oder Rut 2,20

[8] vgl. Kol 2,14a

[9] vgl. Gen 1,27

[10] Ps 139,13-16

[11] Rainer Maria Rilke: „Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht / und sagt: Ich bin. / Ein Gott, der seine Stärke eingesteht, / hat keinen Sinn. / Da musst du wissen, dass dich Gott durchweht / seit Anbeginn, / und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät, / dann schafft er drin.“

<< zurück zu Ansverus-News 2023-48