Predigt zum 2. Advent

von Diakon Tobias Riedel

Ein Soldat tröstet ein Opfer des Hurrikans Ike, fotografiert in Texas am 14. September 2008. Foto: Wikipedia gemeinfrei

Erste Lesung: Jes 40,1-5.9-11

1 Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.

2 Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu, dass sie vollendet hat ihren Frondienst, dass gesühnt ist ihre Schuld, dass sie empfangen hat aus der Hand des Herrn Doppeltes für all ihre Sünden!

3 Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt den Weg des Herrn, ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott!

4 Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben.

5 Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, alles Fleisch wird sie sehen. Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen.

9 Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den Städten in Juda: Siehe, da ist euer Gott.

10 Siehe, Gott, der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Siehe, sein Lohn ist mit ihm und sein Ertrag geht vor ihm her.

11 Wie ein Hirt weidet er seine Herde, auf seinem Arm sammelt er die Lämmer, an seiner Brust trägt er sie, die Mutterschafe führt er behutsam.

 

Predigt

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

„Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ Mit diesem Satz beginnt die heutige erste Lesung aus dem Buch Jesaja. Es ist ein Auftrag Gottes an mehrere, nicht näher genannte Personen, das Volk Israel zu trösten. Und er führt uns zu einer Frage: Trösten – wie geht das eigentlich?

Ein Beispiel: Ein kleiner Junge ist mit dem Fahrrad gefallen. Der Ellbogen blutet. Die Mutter hört das Geschrei und kommt gelaufen. Sie setzt sich auf den Boden und nimmt ihn in den Arm. Sie sagt nicht viel, wiegt ihn nur leicht hin und her, summt etwas, drückt ihn an sich. Nach ein paar Minuten stehen sie auf und gehen Hand in Hand ein Pflaster holen.

Die Mutter hat den Jungen getröstet. Wie hat sie das eigentlich gemacht? Nicht durch viele Worte:

Sie hat ihm nicht auf die Schulter geklopft und gesagt: „Das wird schon wieder.“

Sie hat sein Unglück nicht relativiert und gesagt: „Dein Bruder musste neulich sogar ins Krankenhaus.“

Sie hat nicht nach Erklärungen gesucht: „Du hast einfach zu scharf gebremst – da bist du weggerutscht.“

Und sie hat ihm keine Vorwürfe gemacht: „Du hättest wirklich besser aufpassen sollen!“

Nein, die Mutter war einfach nur da. Verlässlich da. Und sie ist da geblieben, bis ihr kleiner Sohn realisiert hat, was geschehen ist – und dass das Leben dennoch weitergeht.

Trost brauchen jedoch nicht nur Kinder – sondern wir alle. Denn unser aller Leben ist ein Leben lang fragil: Menschen bangen um ihren Arbeitsplatz. Beziehungen zerbrechen. Die abendliche Tagesschau lässt uns fassungslos zurück. Wie viele Menschen haben in der vergangenen Woche eine negative Diagnose von ihrem Arzt erhalten – und wie viele haben in der vergangenen Woche einen lieben Menschen verloren …

In all diesen Situationen sind wir Trost-bedürftig. Und es ist ein Segen, wenn dann jemand da ist, der uns tröstet wie die Mutter im oben beschriebenen Beispiel: Jemand, der einfach nur da ist. Verlässlich da ist. Und der da bleibt, bis wir realisiert haben, was geschehen ist – und dass das Leben dennoch weitergeht.

Trösten können wir grundsätzlich alle. Doch es gibt Menschen, die können das ganz besonders gut. Sie sind begnadete Tröster. Ich vermute, es liegt daran, dass sie selbst Leid und Trost erfahren haben. Die Erfahrung des Leids macht sie sensibel für das Leid anderer – und die Erfahrung des Trostes gibt ihrem Leben einen verlässlichen Grund, den sie auch anderen vermitteln können. Aller Trost – das ist klar – kann das Leid nicht ungeschehen machen. Doch er kann uns helfen, mit dem Leid zu leben.

Schauen wir noch einmal auf die Lesung aus dem Buch Jesaja. Der historische Hintergrund des Textes ist die Erfahrung des babylonischen Exils. Babylon, die Militärmacht aus dem Osten, hat Jerusalem überrannt. Ohnmächtig müssen die Israeliten zusehen, wie der Tempel geschändet und die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung deportiert wird. Es ist ein kollektives Trauma. Das ganze Volk ist Trost-bedürftig.

In dieser Situation machen einige Israeliten eine Erfahrung. Sie spüren: Da ist ein großer Jemand, der für uns da ist. Verlässlich da ist. Einer, der da bleibt. Der uns hilft, zu realisieren, was geschehen ist – und uns hilft, trotzdem weiterzuleben. In der Erfahrung der Leids fühlen sie sich getröstet. In der Erfahrung der Ohnmacht begegnet ihnen Gott. Hier, am Nullpunkt, lernen sie, größer von Gott zu denken.

Später geben sie diesem großen Jemand einen Namen: JHWH. Das heißt übersetzt: Ich-bin-da. Und noch mehr, es bedeutet auch: Ich-war-da. Und: Ich-werde-da-sein. Denn der Gottesname steht im sogenannten ewigen Präsenz, einer Besonderheit der hebräischen Sprache. Er bezeichnet Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft. Damit ist er immer auch Verheißung. Der Name beschreibt, wie Gott ist: JHWH ist für die Menschen da – und deshalb ein Gott des Trostes – weil er sie liebt.

An diese Menschen, die gelernt haben, so von Gott zu denken, ergeht nun der Auftrag: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ Wie sollen sie das machen? Wie sollen ein paar Menschen ein ganzes Volk trösten? Die Antwort liegt auf der Hand: Indem sie erzählen, was sie erfahren haben. Indem sie ihre Gotteserfahrung teilen. So entstehen – nach und nach im Laufe von Jahrhunderten – das Buch Jesaja und viele weitere Texte des Ersten Testaments. Hier haben Menschen ihre Erfahrungen mit dem Gott niedergeschrieben, der von sich selber sagt: Ich bin der Ich-bin-da. [1]

„Tröstet, tröstet mein Volk“ – dieser Auftrag gilt allen Menschen, die je eine existentielle Erfahrung mit Gott gemacht haben. Er gilt damit – so hoffe ich – auch uns. Wir sollen von Gott, dem Tröster, erzählen – und so selber Trost spenden. Und wir sollen wie JHWH, der Ich-bin-da, verlässlich für die Menschen da sein, die unsere Nähe brauchen, weil sich ihr Leben wieder einmal als fragil erweist. Dann gilt der Jubelruf aus dem Buch Jesaja auch uns – und klingt neu wie am ersten Tag: Steigt auf einen hohen Berg, ihr Gotteskinder! Ihr seid Boten der Freude! Erheb eure Stimme mit Macht! Fürchtet euch nicht und sagt den Menschen in aller Welt: Seht, so ist Gott! [2]

Amen.

[1] vgl. Ex 3,3 ff.

[2] vgl. Jes 40,9

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