von Diakon Tobias Riedel
Evangelium: Johannes 20,19-31
19 Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!
20 Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen.
21 Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
22 Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!
23 Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.
24 Thomas, der Dídymus – Zwilling – genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam.
25 Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.
26 Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch!
27 Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
28 Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott!
29 Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
30 Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind.
31 Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.
Predigt
Liebe Schwestern und liebe Brüder,
vermutlich kennen viele von Ihnen den folgenden Satz von Karl Rahner: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Ein solcher „Christ der Zukunft“ begegnet uns, so scheint es mir, im heutigen Evangelium: Thomas.
Die Jünger sind versammelt. Gemeinsam machen sie eine Erfahrung: Ihnen geht auf, dass derselbe Jesus, mit dem sie durch Galiläa und bis Jerusalem gewandert sind und den sie am Kreuz haben sterben sehen, lebt – anders als zuvor, aber nicht weniger real. Die Auferstehung wird für sie zur Gewissheit.
Doch Thomas ist nicht dabei. Natürlich erzählen die anderen Jünger ihm voller Freude von der Erfahrung, die sie gemacht haben – doch er kann sich nicht mitfreuen. Mit einer gesunden Skepsis gesegnet und unempfänglich gegenüber religiöser Schwärmerei, genügt ihm die Erzählung seiner Freunde nicht. „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“, sagt er. Mit anderen Worten: Thomas möchte selber sehen, selber fühlen, selber die Erfahrung machen, dass der Herr lebt – erst dann könnte er glauben. Glauben allein auf das Wort anderer hin, sozusagen glauben „aus zweiter Hand“, ist seine Sache nicht. Ich stelle mir vor, dass die anderen Jünger enttäuscht waren über seine Reaktion: Da hatten sie eine tiefe Erfahrung gemacht, hatten Thomas voll Freude davon erzählt – doch der Funke springt nicht über.
Vielen Menschen heute – so scheint mir – geht es wie Thomas. Wir bewundern alte Kirchengebäude, beeindruckende Glaubenszeugnisse unserer Vorfahren. Wir hören im Radio die Morgenandacht. Beim Segen „Urbi et orbi“ sind wir live dabei. Doch all das führt nicht zum Glauben. Denn die persönliche Begegnung mit dem Auferstandenen fehlt. Wenn uns jemand von seinen Glaubenserfahrungen berichtet, auf YouTube etwa oder als Zeugnis bei einem freikirchlichen Gottesdienst, bleiben wir distanziert. Als aufgeklärte, denkende Menschen des 21. Jahrhunderts ist uns eine skeptische Haltung gegenüber allem, was sich nicht messen, belegen, empirisch beweisen lässt, in Fleisch und Blut übergegangen.
Könnte Thomas so etwas sein wie ein Prototyp der Gottsucher von heute und morgen? Neben einer ständig wachsenden Gruppe von Menschen in unserem Land, die die Frage nach Gott gar nicht mehr für relevant hält und einer immer kleiner werdenden Gruppe von Christen, die in Beziehung mit Gott „auf Du und Du“ lebt, gibt es gar nicht so wenige Menschen wie Thomas: skeptisch, aber durchaus auf der Suche.[1] Wo können sie dem Auferstandenen begegnen? Drei Gedanken dazu:
Erstens: Wenn ein Mensch Gott sucht, sich nach ihm sehnt, dann ist Gott in dieser Sehnsucht schon in ihm wirksam. Die Sehnsucht nach Gott ist nichts anderes als die leise Stimme Gottes, die uns ruft – weil er in Beziehung mit uns leben möchte. Pointiert gesagt: Wer sich nach Gott sehnt, in dem wirkt er bereits.
Zweitens gibt uns das Evangelium der Osternacht[2] einen Hinweis. Was sagte noch der Engel zu den Frauen am Grab? „Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.“ Galiläa – wo ist das? Gemeint ist wohl nicht der Landstrich westlich des Sees Genezareth. Vielmehr fordert der Engel die Jüngerinnen und Jünger auf, in ihren Alltag zurückzukehren. Nicht in Jerusalem, dem politischen und religiösen Machtzentrum, sondern in der Normalität unseres Alltags wartet Jesus geduldig auf uns. Teresa von Avila wird es rund 1.500 Jahre später so ausdrücken: „Gott findet man auch zwischen den Kochtöpfen.“
Einen dritten Hinweis verdanken wir dem Evangelium vom Ostermontag:[3] „Am ersten Tag der Woche waren zwei von den Jüngern Jesu auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. Und es geschah: Während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus selbst hinzu und ging mit ihnen.“ Jesus begegnet den Jüngern, während sie sich über ihren Glauben austauschen. Wie wäre es, wenn wir aufhörten, immer nur über Geld, Immobilien und Personal zu reden – und anfingen, uns über unseren Glauben auszutauschen? Wer weiß, vielleicht würden wir wie Thomas stammeln: „Mein Herr und mein Gott!“
Amen.
[1] vgl. https://kmu.ekd.de/
[2] Mk 16,1-7
[3] Lk 24,13-35