von Diakon Tobias Riedel

Erste Lesung: Ez 47,1-2.8-9.12
1 Der Mann, der mich begleitete, führte mich zum Eingang des Tempels und siehe, Wasser strömte unter der Tempelschwelle hervor nach Osten hin; denn die vordere Seite des Tempels schaute nach Osten. Das Wasser floss unterhalb der rechten Seite des Tempels herab, südlich vom Altar. 2 Dann führte er mich durch das Nordtor hinaus und ließ mich außen herum zum äußeren Osttor gehen. Und siehe, das Wasser rieselte an der Südseite hervor. 8 Er sagte zu mir: Dieses Wasser fließt hinaus in den östlichen Bezirk, es strömt in die Áraba hinab und mündet in das Meer, in das Meer mit dem salzigen Wasser. So wird das salzige Wasser gesund. 9 Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können und sehr viele Fische wird es geben. Weil dieses Wasser dort hinkommt, werden sie gesund; wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben. 12 An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische Früchte; denn ihre Wasser kommen aus dem Heiligtum. Die Früchte werden als Speise und die Blätter als Heilmittel dienen.
Zweite Lesung: 1 Kor 3,9c-11.16-17
Schwestern und Brüder!
9c Ihr seid Gottes Bau. 10 Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe ich wie ein weiser Baumeister den Grund gelegt; ein anderer baut darauf weiter. Aber jeder soll darauf achten, wie er weiterbaut. 11 Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.
16 Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? 17 Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr.
Evangelium: Johannes 2,13-22
13 Das Paschafest der Juden war nahe und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. 14 Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. 15 Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern; das Geld der Wechsler schüttete er aus, ihre Tische stieß er um 16 und zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle! 17 Seine Jünger erinnerten sich, dass geschrieben steht: Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren.
18 Da ergriffen die Juden das Wort und sagten zu ihm: Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst? 19 Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. 20 Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? 21 Er aber meinte den Tempel seines Leibes. 22 Als er von den Toten auferweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.
Predigt
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
In diesem Jahr fällt der 32. Sonntag im Jahreskreis aus. Er wird verdrängt von einem Kirchweihfest: dem Weihetag der Lateranbasilika. Die Lateranbasilika ist nicht irgendeine Kirche: Der römische Kaiser Konstantin ließ sie Anfang des 4. Jahrhunderts aus Dankbarkeit für seinen Sieg an der Milvischen Brücke erbauen und schenkte sie dem Bischof von Rom. Bis heute ist sie – und nicht der viel später erbaute Petersdom[1] – die eigentliche Bischofskirche des Papstes.
Doch: Was hat das mit uns zu tun? Allein in unserer Pfarrei wurden in den letzten anderthalb Jahren vier Kirchen geschlossen[2] – an Kirchweih ist derzeit nicht zu denken. Und dieser Prozess ist noch nicht zu Ende: Hier bei uns im Erzbistum Hamburg und wohl in ganz Europa werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch etliche Profanierungen folgen. Meine Begeisterung hielt sich insofern in Grenzen, als mir klar wurde, dass ich ausgerechnet heute – an einem Kirchweihfest – mit dem Predigtdienst an der Reihe bin. Doch als ich dann die biblischen Texte las, die wir gerade gehört haben, war ist rasch wieder versöhnt. Denn ich bin überzeugt: Sie haben uns etwas zu sagen, gerade in unsere jetzige Situation hinein. Schauen wir sie uns der Reihe nach an:
Bei der ersten Lesung aus dem Buch Ezechiel handelt es sich um eine Vision des Propheten. Er sieht einen Tempel, in dem ein Quell entspringt. Und dieser Quell schwillt immer mehr an: Erst rieselt das Wasser, dann fließt es, dann strömt es. Der Strom ist voller Fische, voller Leben – und das Land, das von seinem Wasser getränkt wird, ist überaus fruchtbar, voller Obstbäume. Es ist eine paradiesische Vision.[3]
Das Bild ist nicht schwer zu verstehen: Nach jüdischem Verständnis war zunächst die Bundeslade, später der Tempel der Ort der Gegenwart JHWHs in der Welt. Und hier – im Tempel und damit in JHWH – entspringt der Strom, der das Leben des Volkes Israel überhaupt erst möglich macht. Mit anderen Worten: JHWH ist präsent in der Welt und sorgt für sein Volk.
Wie ist es heute? Wie gesagt, wir haben in unserer Pfarrei in den letzten Monaten vier Kirchen geschlossen. Haben wir damit den Strom der Liebe, der von Gott kommt und unseren Glauben nährt, zum Versiegen gebracht? Sicherlich nicht – denn wir haben heute eine umfassendere Vorstellung davon, wie Gott in der Welt präsent ist. Wir können ihm auf vielfache Weise begegnen, in der Liturgie ebenso wie beim Lesen in der Heiligen Schrift, im Erleben der Schöpfung ebenso wie in der Begegnung mit dem Nächsten. Immer begegnen wir dem gleichen, unbegreiflichen, liebenden Gott. Keine Frage: Ein Kirchengebäude zu haben erleichtert uns als Einzelnen und als Gemeinde vieles. Doch für die Begegnung mit Gott – und darauf kommt es schließlich an! – ist es nicht notwendig. Ich denke, es ist ein Trost, sich das in dieser Zeit bewusst zu machen: Auch wenn wir Kirchen schließen müssen – der Strom der Liebe, der von Gott kommt und unseren Glauben nährt, verliert dadurch nichts von seiner Kraft. Gott ist weiter präsent in der Welt und sorgt für seine – d.h. alle – Menschen.
Auch die zweite Lesung aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther greift das Bild des Tempels auf. Paulus schreibt: Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? [4] Natürlich kennt Paulus die jüdische Vorstellung vom Tempel als Ort der Gegenwart Gottes, schließlich ist er selbst Jude und gehörte bis zu seinem Damaskus-Erlebnis zu den Pharisäern. Diese ihm ganz vertraute Vorstellung entwickelt er nach seiner Begegnung mit dem Auferstandenen weiter: Nicht der Tempel in Jerusalem, nicht ein Gebäude, sondern die Gemeinschaft der Getauften ist nun der bevorzugte „Ort“, an dem Gott erfahren werden kann.
Ich denke, dies ist ein wertvoller Impuls auch für uns. Die äußere Gestalt der Kirche verändert sich rasant: Weniger Mitglieder – weniger hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – weniger Geld – weniger Gebäude. Die Volkskirche, mit der viele von uns noch aufgewachsen sind, stirbt gerade vor unseren Augen. Und dennoch gilt die Zusage: Da, wo sich Getaufte zu einer Gemeinde zusammenfinden, ist Gott.[5]
Ich denke, wir sollten uns deshalb bemühen, unsere Gemeinden – auch wenn sie klein sind – zu stärken. Doch dafür ist es meines Erachtens notwendig, dass wir uns über unsere Erfahrungen mit Gott austauschen, wenn wir zusammenkommen. Wenn sich etwa der Seniorenkreis trifft und miteinander Kaffee trinkt, mag das nett sein – zum „Tempel“ wird der Nachmittag aber erst, wenn Gott in unseren Gesprächen, unserem Miteinander eine Rolle spielt. Gleiches gilt für alle anderen Altersgruppen. Mein Eindruck ist: Wir reden in unseren Gemeinden über alles Mögliche, am wenigsten über Gott. Wir sollten damit anfangen!
Schließlich noch ein Blick auf die dritte biblische Lesung, die wir heute gehört haben, das Evangelium. Wir erleben darin einen Jesus, der sich ganz anders verhält als wir es gewohnt sind: Mit einer Geißel aus Stricken treibt er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben samt ihren Tieren aus dem Tempel hinaus; ebenso die Geldwechsler, ihr Geld schüttet er aus, ihre Tische stößt er um. Was bringt Jesus so in Rage?
Ich denke, sein Zorn gilt nur vordergründig den Viehhändlern und Geldwechslern – dahinter steht etwas anderes: In vielen archaischen Religionen gilt das Prinzip des do ut des. [6] In einem solchen religiösen System sind die Menschen davon überzeugt, sie müssten einer Gottheit etwas opfern, um sie gnädig zu stimmen. Die prophetische Tradition Israels hingegen hatte schon Jahrhunderte vor Jesus erkannt, dass JHWH ganz anders ist. Der Prophet Hosea etwa hatte formuliert: An Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern. [7] Dennoch blühte zu Lebzeiten Jesu am Jerusalemer Tempel eine wahre Opfer-Industrie: Die Pilger, die am Tempel eintrafen, kauften ein oder mehrere Opfertiere,[8] ggf. nahmen sie dabei den Service der Geldwechsler in Anspruch. Sodann übergaben sie die Tiere einem der zahlreichen Opferpriester, der sie dann auf einem der Altäre schlachtete.
Ich denke, das ist es, was Jesus so wütend macht: Die Vorstellung, man könne mit seinem Vater, mit JHWH Geschäfte machen, ihn durch ein Opfer beeinflussen. Und auch wir sollten uns vor solchen Vorstellungen hüten, sie begegnen uns in über zweitausend Jahren Kirchengeschichte immer wieder, bis heute.[9] Stattdessen sollte seit Hosea, spätestens aber seit Jesus klar sein: Gott liebt alle Menschen – gratis. Und die Erfahrung dieser Liebe ist es, die uns befähigt, liebevoll miteinander umzugehen.
Amen.
[1] Grundsteinlegung des heutigen Petersdoms am 18. April 1506 unter Papst Julius II.
[2] in Reinfeld, Großhansdorf, Trittau und Bargteheide
[3] vgl. Ps 65,10: Du sorgst für das Land und tränkst es, du überschüttest es mit Reichtum. Der Gottesbach hat Wasser in Fülle.
[4] 1 Kor 3,16
[5] vgl. Mt 18,20
[6] Die alte römische Rechtsformel ‚do ut des‘ bedeutet: Ich gebe dir, damit du mir etwas gibst.
[7] Hos 6,6
[8] Sogar die Eltern Jesu verhalten sich so, vgl. Lk 2,22 ff.
[9] vgl. die bis heute übliche Praxis der sog. „Messstipendien“ oder „Messintentionen“