von Gemeindereferentin Monika Tenambergen
Evangelium: Markus 10, 46b-52
46 Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
47 Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
48 Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!
49 Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich.
50 Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.
51 Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können.
52 Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.
Impuls
Die Erzählung vom Blinden Bartimäus ist eine von vielen Wunderheilungen der Bibel. Wie oft hat man sie schon gehört, gelesen, den Kindern erzählt – meist jedoch als isolierte Geschichte, herausgenommen aus dem Kontext, in dem sie steht. Denn zusammen mit der ersten Blindenheilung, von der im 8. Kapitel berichtet wird[1], bildet sie den Rahmen für den Bericht über Jesu Weg nach Jerusalem[2]. Zwei physische Blindenheilungen stehen für die dringend notwendige Heilung der blinden Herzen der Jünger, die mit Jesus auf dem Weg sind. „Begreift und versteht ihr immer noch nicht? Ist denn euer Herz verstockt? Habt ihr denn keine Augen, um zu sehen und keine Ohren um zu hören?“,[3] fragt Jesus sie.
Auf seinem Weg nach Jerusalem, der im äußersten Norden des Landes, in Cäsarea Philippi, beginnt, versucht Jesus seinen Jüngern die Augen dafür zu öffnen, was es heißt, ihm nachzufolgen. Dreimal erklärt er ihnen unterwegs, dass er Leiden und Tod auf sich nehmen muss, bevor er auferstehen wird – und dass echte Nachfolge bedeutet, diesen Weg nach Jerusalem mitzugehen, nicht nur im äußeren Unterwegssein, sondern auch innerlich, mit dem Herzen. Jedes Mal missverstehen sie ihn und wollen ihn von seinem Weg abbringen. Und immer wieder streiten sie stattdessen darum, wer der Größte unter ihnen sei und wer die besten Plätze in seinem Reich bekommen soll. Die Jünger sind zwar tagein tagaus mit Jesus unterwegs – keiner ist näher bei ihm als sie – und man sollte meinen, dass sie die besten Chancen haben, die Botschaft vom Gottesreich zu verstehen – aber die eigentlichen Blinden sind sie.
Auf dem Weg nach Jerusalem sind sie inzwischen in Jericho angekommen, haben augenscheinlich die Nacht dort verbracht und sind schon früh am Morgen unterwegs. Von hier aus ist es noch eine stramme Tagesreise steil aufwärts aus dem Jordantal bis hinauf nach Jerusalem. Vermutlich sind all die anderen Menschen, die Jesus begleiten, wie er auf dem Weg, um dort das jährliche Paschafest zu feiern. Auch sie haben keine Ahnung, was in diesem Jahr dort geschehen wird.
Da kommen sie an einem blinden Bettler vorbei. Er sitzt am Straßenrand. Als er davon hört, dass Jesus aus Nazareth vorbeikommt, ruft er laut nach ihm: „Sohn Davids, Jesus[4], hab Erbarmen mit mir!“ Er ist der einzige, der mit dem Herzen sieht und Jesus als den verheißenen Retter erkennt. Er bezeichnet ihn mit dem messianischen Titel als den Sohn Davids – und das ist es, worauf es ankommt: auf sein Vertrauen in Jesus, den Sohn Davids, den Messias, auf den, der Rettung, Heil, Shalom bringt. Dieses Vertrauen ist so groß, dass er sich gegen alle Widerstände bemerkbar macht und nach ihm ruft, erst laut – und dann noch viel lauter, als die anderen versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen.
Jesus bleibt stehen und lässt den Bettler zu sich rufen. Der gibt das kleine bisschen Sicherheit, das er hat – symbolisiert durch den Mantel – auf und setzt sein volles Vertrauen auf Jesus. Er springt auf und läuft auf Jesus zu, als Blinder! Der stellt nur eine einzige Frage, deren Antwort er sich hätte denken können. „Was soll ich dir tun?“ „Ich möchte sehen können!“ Erstaunlich, dass Jesus dann doch nichts tut: keine Berührung, kein Heilungswort, kein Gebet, keine Heilungsgeste. Nichts! Allein sein Glaube, sein Vertrauen in den Sohn Davids, heilt Bartimäus. Dann schickt Jesus ihn weg: „Geh!“ Aber der Geheilte geht nicht. Er, der abseits des Weges saß, der nicht zur Gesellschaft dazu gehörte, geht jetzt mit Jesus den Weg nach Jerusalem. Er ist der erste, der verstanden hat, worum es geht.
Beim Nachdenken über diese Geschichte erinnerte ich mich an eine wahre Geschichte unserer Tage, die Geschichte des blinden Marathonläufers Henry Wanyoike aus Kenia, der nach einer plötzlichen Erblindung über Nacht zunächst alle Zukunftsperspektiven verlor, in tiefe Depressionen fiel – und der dennoch zum Hoffnungsträger und Hoffnungsbringer für seine kenianischen Landsleute wurde. Sie können seine Geschichte hier nachlesen. Michael Patrick Kelly widmet Henry Wanyoike einen Song auf seinem Album B.O.A.T.S (Based On A True Story), den Sie sich hier anhören können (von 18 Min. 18 Sek. bis 28 Min. 26 Sek.). Im Refrain heißt es:
And when there are no clear roads to find
Und wenn es keine geraden Straßen gibt
And you’re out there waiting for a sign
Und du da draußen auf ein Zeichen wartest
And when there is no one by your side
Und wenn niemand an deiner Seite ist
Trusting your heart to see the light
Vertraue deinem Herzen um das Licht zu sehen
Wherever you are, have faith in the dark
Wo immer du bist, hab Vertrauen in der Dunkelheit
When you’re running blind, when you’re running blind
Wenn du blind läufst, wenn du blind läufst.
Now you’ve come so far, against all the odds
Du bist so weit gekommen, gegen alle Widerstände
Keep running blind, keep running blind
Lauf weiter blind, lauf weiter blind.
Running blind – eine Frage des Vertrauens.
[1] Mk 8,22-26
[2] Mk 8,27-10,52
[3] Mk 8,17-18
[4] Der Name Jesus bedeutet übersetzt „JHWH ist Heil“ oder „JHWH ist Rettung“.