von Diakon Tobias Riedel

Predigt
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
In der Fastenzeit begegnen uns im Gottesdienst verstärkt biblische Lesungen, die sich auf den Exodus beziehen – den Auszug des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Auch am heutigen vierten Fastensonntag ist das so: Die ersttestamentliche Lesung aus dem Buch Josua[1] markiert gewissermaßen das Ende des Exodus, sie beschreibt die Ankunft Israels im gelobten Land Kanaan. Und auch in der Osternacht, dem wichtigsten Gottesdienst des Kirchenjahres, hat die Lesung aus dem Buch Exodus eine herausragende Stellung: Die Erzählung vom Durchzug durch das Rote Meer darf als einzige ersttestamentliche Lesung niemals fehlen.[2]
Weshalb sind die Exodus-Erzählungen so wichtig? Weshalb steht und fällt unser Glaube – pointiert gefragt – mit der Erzählung von der Flucht einer kleinen Gruppe semitischer Sklaven vor über zweitausendfünfhundert Jahren in die Freiheit? Dieser Frage möchte ich heute mit Ihnen nachgehen. Wir müssen dazu einen kleinen Exkurs in die historische Entwicklung des Glaubens des jüdischen Volkes unternehmen.
Überall auf der Welt glaubten die Menschen über Jahrtausende an Naturgottheiten.[3] Sie machten die Erfahrung, dass ihr Leben von Sonne und Mond abhängig war, von Donner und Blitz, von Sturm und Regen. Die Menschen waren diesen Naturgewalten, die viel mächtiger waren als sie selbst, schutzlos ausgeliefert. Deshalb verehrten sie sie als Gottheiten. Das war bei den Griechen, Römern und Germanen so – und auch im Vorderen Orient, wo sich ab etwa 1250 v. Chr. einige semitische Stämme zum späteren Volk Israel zusammenschlossen, war es nicht anders.
Doch was konnte man tun, um die unberechenbaren Götter möglichst gewogen zu stimmen? Schließlich wollte man nicht, dass ein Blitz das eigene Zelt traf oder eine Trockenzeit die Ernte verdorren ließ … Um die Gottheiten zu besänftigen, brachte man ihnen Opfer. Und geopfert wurde natürlich etwas Wertvolles: ein Teil der Ernte etwa oder ein junges, makelloses Tier aus der Herde oder sogar das wertvollste, was man hatte: die eigene Tochter oder der eigene Sohn. In vielen Völkern waren Menschenopfer über Jahrtausende gang und gäbe, auch in Israel. In der Erzählung von der Opferung Isaaks durch Abraham[4] hallt diese Praxis noch nach.
Versetzen wir uns einmal in die Menschen damals. Ich bin davon überzeugt: Auch damals liebten Eltern ihre Kinder. Und nun stellen Sie sich einmal vor, es steht wieder ein Opfer an, die Stammesältesten beraten, und die Wahl fällt auf ihren Sohn oder ihre Tochter. Wie soll man das als Vater, als Mutter ertragen? Wie soll man danach weiterleben?
Wir halten fest: Über Jahrtausende funktionierte Religion nach dem immergleichen Muster: Da gab es Gottheiten, launisch und unberechenbar, denen die Menschen schutzlos ausgeliefert waren. Um sie gnädig zu stimmen, brachte man ihnen Opfer. Doch der Opferkult war einerseits zutiefst unmenschlich – und konnte andererseits die Angst nie ganz besänftigen. Denn trotz aller Opfer schlug der Blitz ja mitunter mitten im eigenen Lager ein … Eine solche Form von Religion ist gekennzeichnet von Unfreiheit und Angst. Sie ist – im Bild gesprochen – wie Sklaverei in Ägypten.
Der Durchbruch zu einem neuen Gottesbild und damit zu einer völlig neuen Form von Religion gelang angesichts einer Katastrophe: Im Jahr 597 vor Christus erscheinen die Babylonier mit einem riesigen Heer vor Jerusalem. Die Menschen sind in heller Panik. Es wird geopfert, was das Zeug hält – und siehe da: Die Babylonier ziehen ab. „Na bitte, es geht doch“, werden sich die Opferpriester gesagt haben, „Gott hat geholfen.“ Heute geht man davon aus, dass der Ausbruch einer Seuche im babylonischen Heer Ursache des Abzugs war.
Doch zehn Jahre später sind die Babylonier wieder da. Wieder rauchen die Altäre – doch es hilft nichts: Die Stadt wird erobert, der Tempel zerstört und die komplette Oberschicht in Gefangenschaft geführt. Ein Schock! Wollte Gott seinem Volk nicht helfen? Oder konnte er nicht? War er vielleicht schwächer als der babylonische Sonnengott Marduk? Wir merken: Nicht nur der Tempel liegt in Trümmern. Es bricht ein ganzes Weltbild zusammen, das Volk Israel ist auch religiös am Nullpunkt.
Von nun an lebt das Volk Israel fast fünfzig Jahre lang[5] in Gefangenschaft – viel Zeit, um nachzudenken … Ich stelle mir vor, da sitzt eine Gruppe alter Männer abends nach der harten Arbeit vor einer Lehmhütte. Im Westen versinkt die Sonne am Horizont. „Wie kommt es eigentlich“, fragt einer leise, „dass es die Welt gibt – und nicht nicht gibt? Wie kommt es, dass ich da bin – und nicht nicht da bin?“ Sie schweigen eine Weile, staunend über das Farbenspiel am Himmel. Dann sagt ein anderer: „Wir haben Gott im Tempel geopfert, damit er uns vor den Babyloniern rettet. Wir dachten, er sei wie ein Krieger,[6] der auf unserer Seite steht. Aber Gott ist viel größer …“
Nach und nach – während der Gefangenschaft – setzt sich im jüdischen Volk die Einsicht durch: Wir müssen größer von Gott denken! Er ist nicht wie die Sonne – er hat die Sonne ins Dasein gesetzt. Und nicht nur die Sonne, die ganze Welt hat er geschaffen. Die Menschen beginnen zu unterscheiden zwischen Schöpfung und Schöpfer. Ein erster epochaler Schritt!
Doch dieses neue Denken hat praktische Konsequenzen: Wenn Gott die Welt ins Dasein gesetzt hat, dann muss er ihr zumindest grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Hätte er die Schöpfung nicht gewollt, hätte er sie ja nicht geschaffen! Die Menschen spüren: Gott steht zu seiner Schöpfung – mit allem, was dazugehört. Später formulieren sie es wie folgt: „Gott sah, dass es gut war.“[7] Ein zweiter epochaler Schritt!
Aber halt: Wenn Gott zu seiner ganzen Schöpfung ‚ja‘ sagt – dann sagt er auch ja zu mir! Dann bin auch ich gewollt, ja vielleicht sogar geliebt! Dann gilt der Satz „Gott sah, dass es gut war“ auch für mich! Allerdings: Er gilt auch für meinen Bruder, der mir manchmal so auf die Nerven geht – und er gilt sogar für den babylonischen Aufseher, der heute wieder so ungerecht war … Ein dritter epochaler Schritt!
Doch es geht noch weiter: Wenn Gott grundsätzlich ja zu mir sagt – dann ist alle Opferei ja sinnlos! Mit dem Schlachten von Opfertieren haben wir versucht, Gott gnädig zu stimmen – dabei steht er längst zu uns! Er steht treu zu uns und weicht nicht von unserer Seite – selbst wenn unser Leben uns wie eine einzige Wanderung durch die Wüste erscheint … Ein vierter epochaler Schritt!
Und schließlich: Wenn Gott keine Opfer von uns will – was will er dann? Was können, was sollen wir ihm geben? Nach und nach erkennt Israel die Antwort – und wagt sie wie folgt zu formulieren: „Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“[8] Ein fünfter epochaler Schritt!
Wir sehen: In der babylonischen Gefangenschaft setzt sich ein ganz neues Gottesbild durch. Die alte Vorstellung von Gott als einer unberechenbaren Macht, die es mit Opfern gnädig zu stimmen gilt, zerbricht. Die Sklaverei hat ein Ende. An seine Stelle tritt der Glaube an Gott, den Schöpfer – der die Schöpfung, mich eingeschlossen, bejaht – der mich liebt und geliebt werden will, sprich: der in Beziehung mit mir leben will – und der von mir erwartet, dass ich auch mit meinen Mitmenschen liebevoll umgehe. Das Buch Hosea formuliert diese Erkenntnis später wie folgt: „Denn an Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern.“[9] Jesus wird sich ausdrücklich auf diese Schriftstelle berufen.[10]
Die neue Art, von Gott zu denken, verlangt nach einem neuen Gottesnamen: JHWH. Dieser Name ist eigentlich kein Name, sondern ein Programm. Er bedeutet übersetzt: Ich bin da. Aber auch: Ich war da und Ich werde da sein. Weise Menschen beginnen später, das, was sie von JHWH erkannt haben, aufzuschreiben. So entsteht die Tora mit der Exodus-Erzählung. Darin können wir den Weg des Volkes Israel von der Knechtschaft in Ägypten bis ins gelobte Land Kanaan nachvollziehen. Es ist ein innerer Weg – von einem Gottesbild, das uns knechtet hin zu einem Gottesbild, dass uns leben lässt.
Und dieser Weg ist nie zu Ende. Denn immer wieder fallen Menschen hinter dieses befreiende Gottesbild zurück: Als Jesus lebte, stand der Opferkult am Jerusalemer Tempel in Blüte – so sehr, dass der sonst so friedliche Jesus sich genötigt sah, die Händler und Geldwechsler mit einer Geißel aus Stricken aus dem Tempel zu jagen.[11] Als Martin Luther lebte, predigte ein gewisser Johann Tetzel, die Menschen könnten durch ein Opfer einen Ablass erlangen. Und auch heute noch halten sich hartnäckig Vorstellungen, man könne Gott durch Opfer unterschiedlichster Art – seien es Geldspenden, eine Pilgerreise oder der Verzicht auf irgendwelchen Luxus – in gewünschter Weise beeinflussen. Wir sollten es besser wissen, seit zweitausendfünfhundert Jahren: Wir sind von Gott geliebt. Und er will von uns nicht Opfer, sondern Liebe. Um seinetwillen. Und um unserer Schwestern und Brüder willen.
Amen.
[1] Jos 5,9a,10-12
[2] Im Messbuch heiß es: „In der [Oster-] Nachtfeier […] werden neun Lesungen vorgetragen, sieben aus dem Alten Testament und zwei aus dem Neuen Testament (Epistel und Evangelium). Aus pastoralen Gründen kann die Zahl der alttestamentlichen Lesungen vermindert werden. Man beachte aber, dass die Lesung des Wortes Gottes einen grundlegenden Teil der Osternacht bildet. Es werden wenigstens drei Lesungen aus dem Alten Testament gelesen […]. Die Lesung vom Durchzug durch das Rote Meer (Ex 14) darf nie ausfallen.“ MB I, S. [86].
[3] Polytheismus
[4] Gen 22,1-18
[5] bis zum Edikt des Kyros im Jahr 539 v. Chr.
[6] vgl. Jes 42,13
[7] vgl. Gen 1,1 ff.
[8] Dtn 6,4-5
[9] Hos 6,6
[10] Mt 12,7 par.
[11] Joh 2,15