Geistlicher Impuls

von Gemeindereferentin Marita Kremper

Foto: Marita Kremper – Die Schale sind die Gebote und Rechtsvorschriften der Juden. Die schimmernde Perle ist das wichtigste Gebot, ohne das alle anderen Vorschriften keine Bedeutung haben. Wenn die Perle sie berührt, werden sie lebendig in Gottes Sinn.

1. Lesung  Ex 22, 20-26

So spricht der Herr:

20 Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.

21 Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen.

22 Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören.

23 Mein Zorn wird entbrennen und ich werde euch mit dem Schwert umbringen, sodass eure Frauen zu Witwen und eure Söhne zu Waisen werden.

24 Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern.

25 Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben;

26 denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid.

Evangelium  Mt 22, 34-40

In jener Zeit, als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie bei ihm zusammen.

35 Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn:

36 Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?

37 Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.

38 Das ist das wichtigste und erste Gebot.

39 Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

40 An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.

Impuls

Was würden Sie antworten, wenn jemand Sie fragt: Was ist die kürzeste Formel für den christlichen Glauben?
Im heutigen Evangelium stellen die Pharisäer Jesus die Frage „Welches Gebot im Gesetz ist das Wichtigste?“ Jesus durchschaut die Falle und antwortet mit einer Kurzformel für den jüdischen und erst recht auch für den christlichen Glauben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“

Als ich mich vor vielen Jahren im Studium mit diesen Texten beschäftigte, hatte ich zunächst die Befürchtung, dass ich jetzt alle Rechtsvorschriften des Judentums kennenlernen muss, um diese Religion und letztlich auch meine eigene wirklich zu verstehen. Die Tora der Juden, die wichtigste Grundlage der jüdischen Lehre umfasst 248 Gebote und 365 Verbote, 613 insgesamt. Sie sind niedergeschrieben in den 5 Büchern des Mose, wie bereits genannt: der Tora. Der erste Lesungstext des heutigen Sonntags ist ein Auszug aus diesen Vorschriften. Ich habe bis heute nicht alle Gesetze und Vorschriften der Tora gelesen.

Was mich aber bereits damals zutiefst berührt hat, war die ursprüngliche Kurzformel der Juden, die Jesus hier aus dem Buch Deuteronomium (6,5) zitiert. Dieses „Gebot“ bewegt mich nicht nur bis heute, ja, es hat sich für mich noch vertieft, und wenn ich die Worte höre, dann brennt etwas in mir wie Feuer. Im genauen Hinhören in mir selbst, hat dieses Brennen mit der Aufforderung zu tun, die die Juden täglich beten: „Höre, Israel, der Herr unser Gott…“ (Dtn 6,5 ff).

Im Laufe der Jahre durfte ich erkennen, dass dieses Hinhören gemeint ist. Wie oft hören wir und hören nicht wirklich hin, ob auf andere Menschen, auf Gott oder auch uns selbst. Wirklich hören, heißt, mich zu öffnen, für das, was gesagt wird. Ich kenne das von mir. Manchmal habe ich schon eine Vorstellung davon, was mir jemand sagt und dann höre ich nicht mehr wirklich aufmerksam zu. Wirklich zuhören meint meine volle Aufmerksamkeit auch darauf, welche Reaktion das Gesagte bei mir auslöst. Manchmal will ich das gar nicht wahrnehmen, weil es vielleicht unangenehm ist, mich ärgert oder Angst auslöst.

Jesus fügt außerdem noch das „ganze Denken“ hinzu. Ist es nicht gerade so, dass uns Menschen besonders unser „Denken“ bestimmt? Wenn aber die eigenen Gedanken sich oft nur um das eigene Wohl und Wehe sorgen, wie kann ich da offen sein, für Gottes Willen? Wer sich aber dem Willen Gottes öffnen kann, dessen Denken öffnet sich auch für andere Einstellungen und Meinungen. Es wird Toleranz möglich, die besonders das Christentum ausgezeichnet hat und auch immer noch auszeichnet.

Jüdische Gesetzeslehrer kennen alle Ge- und Verbote, auch Jesus. Was aber im Laufe der Geschichte des Volkes Israel geschehen ist, das ist auch in der Geschichte der christlichen Kirchen geschehen und auch heute noch hochaktuell. Davor warnt Jesus die Gesetzeslehrer immer wieder. Ein Beispiel: In der Feldrede des Lukas (Lk 6,9) fragt Jesus die Pharisäer: „Ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder zugrunde zu richten?“ Nach den jüdischen Rechtsvorschriften darf niemand am Sabbat arbeiten. Der Sabbat ist heilig und nur Gottes Lob vorbehalten. (1 Mo 2,3 Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn; denn an ihm ruhte Gott) Wenn Jesus hier den Mann mit der verdorrten Hand heilt, so arbeitet er ja im Sinne der Vorschriften des Alten Testaments. Dabei stellt diesmal Jesus die provokante Frage an die Pharisäer auf die sie keine Antwort haben.

Es geht Jesus um die Erfüllung des Gesetzes, aber nicht um die Befolgung der Vorschriften ohne den Mitmenschen im Blick zu haben. Erfüllung des Gesetzes meint, dass Gott immer den Menschen sieht, vor allem den Armen, den Kranken, den Ausgebeuteten, den Gefangenen. Im Markusevangelium sagt Jesus auch zu den Pharisäern als seine Jünger am Sabbat in den Kornfeldern Ähren abrissen und die Pharisäer sich über das Tun am Sabbat aufregten: Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat (Mk 2,23-28).

Die beiden Gebote der Gottes- und Nächstenliebe sind für Christinnen und Christen die Grundlage ihres Glaubens. Sie bewirken das Für- und Miteinander in einer Gemeinde oder Gemeinschaft. Die Befolgung von Vorschriften, die nicht den Menschen im Blick haben, sind im Sinne Jesu und im Sinne des Alten Testaments nicht Gottes Wille. Vorschriften einzuhalten um der Vorschriften wegen, ist zerstörerisch für das Leben. Das Leben wächst und gedeiht so wie es selbst will, aber in der Gemeinschaft mit anderen und in der Befolgung dieses Gebots, wird der Mensch zu einem Individuum, in das Gott selbst seinen Geist gelegt hat.

In einer kleinen jüdischen Geschichte von Rabbi Hillel wird mit wenigen Worten das beschrieben, was man auch die goldene Regel genannt hat, auch bei Lk 6,31 nachzulesen. Hier ist eine Kurzformel für den christlichen Glauben und für ein gutes Miteinander zu finden:
Vor zweitausend Jahren lebte in Israel ein jüdischer Rabbi namens Hillel. Er war für seine Menschenfreundlichkeit, Güte und Großzügigkeit bekannt. Sein Gegenspieler als Glaubenslehrer war Rabbi Schammai, der sehr streng war und die Gebote kleinlich auslegte.

Einmal kam ein Heide zu Rabbi Schammai; er sprach zu ihm: „Rabbi, nimm mich als Schüler deines Glaubens auf unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Bein stehen kann.“ Rabbi Schammai stieß den Heiden wütend davon. Dieser ging danach zu Rabbi Hillel.
Hillel nahm ihn als Glaubensschüler auf und sprach zu ihm: „Was dir unlieb ist, tue keinem anderen. Das ist die ganze Tora, und alles andere ist die Erklärung dazu.“

Die 613 Vorschriften der Tora lassen sich, so stellt Rabbi Hillel fest, in einem Satz zusammenfassen: Was dir unlieb ist, tue keinem anderen. Oder positiv formuliert: Wie du behandelt werden möchtest, so behandle auch andere.
So einfach kann friedliches Zusammenleben möglich werden, dann wächst Gemeinschaft immer wieder neu und aktuell. Und Gott selbst ist mittendrin. Das wünsche ich uns allen an diesem Sonntag.

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