von Diakon Tobias Riedel
Evangelium: Mk 4,26-34
In jener Zeit sprach Jesus zu der Menge:
26 Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät;
27 dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie.
28 Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre.
29 Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.
30 Er sagte: Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben?
31 Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät.
32 Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.
33 Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten.
34 Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.
Predigt
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – ich empfinde die beiden Gleichnisse aus dem Markus-Evangelium, die wir gerade gehört haben, als ungemein entlastend. Als wollte uns Jesus die Hand auf die Schulter legen, um uns zu trösten. In der Predigt heute möchte ich Ihnen erklären, wie ich das meine.
Jesus erzählt die beiden Gleichnisse – das Gleichnis vom Wachsen der Saat [1] und das Gleichnis vom Senfkorn [2] – um seinen Zuhörern zu erklären, wie es sich mit dem Reich Gottes verhält. „Mit dem Reich Gottes ist es wie …“ – so oder so ähnlich beginnen beide Texte. Mit dem Begriff Reich Gottes meint Jesus nicht eine abstrakte, utopische Idee oder gar den Himmel. Nein, das Reich Gottes ist unsere konkrete Welt – allerdings nicht wie sie ist, sondern wie sie nach Gottes Willen sein sollte: Eine Welt des Friedens. Eine Welt der Liebe. Leben in Fülle.
Unsere Realität ist vom Reich Gottes weit entfernt. Ein paar Beispiele genügen, um das zu verdeutlichen: In vielen Gegenden der Erde herrscht Krieg – nicht nur in der Ukraine und in Palästina. Das ökologische Gleichgewicht auf unserem Planeten ist bedroht – durch den Klimawandel, das Artensterben und die Verschmutzung von Luft, Boden und Meer. Und auch unsere demokratische Gesellschaft in Westeuropa ist unter Druck durch Populisten und rechte Demagogen – die Wahlen vom vergangenen Sonntag [3] hallen noch nach.
Und dennoch sagt Jesus: Das Reich Gottes ist nahe! [4] Es ist längst da, hat schon begonnen. Wie ist das zu verstehen? Schauen wir uns die beiden Gleichnisse einmal genauer an:
Im Gleichnis vom Wachsen der Saat ist von einem Sämann die Rede, von einem Acker und von Saatgut. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Bilder zu deuten – ich verstehe sie so: Der Sämann – das sind wir. Es sind alle Menschen guten Willens, die am Reich Gottes mitbauen. Der Acker – das ist unsere Welt. Es ist die gute Schöpfung Gottes, in der wir Menschen und alle Geschöpfe leben. Das Saatgut schließlich ist Liebe. Wir erhalten dieses kostbare Saatgut täglich von Gott geschenkt – und sind berufen, es weiter zu schenken.
Bis zu einem gewissen Punkt kommt es also auf uns an: Wenn das Reich Gottes wachsen soll, ist unser Engagement gefragt. Darin liegt unsere besondere Würde als Menschen und insbesondere als Christen: Wir sind Mitarbeiter Gottes – und als solche dazu berufen, das Reich Gottes immer mehr Wirklichkeit werden zu lassen.
Doch gleichzeitig – und darauf legt das Gleichnis vom Wachsen der Saat den Akzent – liegt es eben nicht allein an uns. Wir sind gefragt als Sämänner und -frauen – doch Gott ist es, der wachsen lässt! [5] Wir schlafen und stehen wieder auf, es wird Nacht und es wird Tag, und währenddessen keimt das Reich Gottes. Die Liebe breitet sich aus – und wir wissen nicht einmal wie! Wir dürfen Gott also etwas zutrauen: Er wird unsere Saat keimen und wachsen und reifen lassen. Ist das nicht tröstlich? Wir dürfen und sollen als Mitarbeiter Gottes säen – für das Wachstum wird Gott selbst sorgen. [6]
Werfen wir noch einen Blick auf das zweite Gleichnis, das Gleichnis vom Senfkorn. Ist es nicht genau so: Unser Saatgut ist oft klein und unscheinbar – doch das sollte uns nicht vom Säen abhalten! Aus dem kleinen Senfkorn entwickelt sich eine große Pflanze, die anderen Schatten spendet und in deren Zweigen die Vögel des Himmels nisten. Will heißen: Auch aus kleinen Anfängen kann mit Gottes Hilfe etwas Großes wachsen, das für andere zum Segen wird.
Mitten in unsere düstere Realität hinein, die von Krieg, Zerstörung der Schöpfung und der Krise unserer Demokratie geprägt ist, senden die Gleichnisse des heutigen Sonntags also einen tröstlichen Hoffnungsstrahl: Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott unsere Saat aufgehen und wachsen lässt, so bescheiden unsere Bemühungen auch sein mögen. Wenn das keine frohe Botschaft ist!
Amen.
[1] Mk 4,26-29
[2] Mk 4,30-32
[3] Europawahl vom 6. bis 9 Juni 2024
[4] Mk 1,15
[5] vgl. auch 1 Kor 3,5-9
[6] Die ignatianische Tradition bringt diese Dialektik so auf den Punkt: „Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg deiner Arbeit einzig von Gott abhinge und nicht von dir. Wende aber allen Fleiß so an, als ob von Gott nichts und von dir alles abhinge“ (G. Hevenesi, Scintillae Ignatianae, 2. Auflage, Wien 1705).