von Pastor Stefan Krinke
Evangelium Joh 9, 1–41
In jener Zeit sah Jesus unterwegs einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde?
Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann.
Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.
Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schilóach! Das heißt übersetzt: der Gesandte. Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen.
Die Nachbarn und jene, die ihn früher als Bettler gesehen hatten,
sagten: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sagten: Er ist es. Andere sagten: Nein, er sieht ihm nur ähnlich.
Er selbst aber sagte: Ich bin es.
Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen geöffnet worden? Er antwortete: Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Teig, bestrich damit meine Augen und sagte zu mir: Geh zum Schilóach und wasch dich! Ich ging hin, wusch mich und konnte sehen. Sie fragten ihn: Wo ist er? Er sagte: Ich weiß es nicht. Da brachten sie den Mann, der blind gewesen war, zu den Pharisäern.
Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Teig gemacht und ihm die Augen geöffnet hatte. Auch die Pharisäer fragten ihn, wie er sehend geworden sei. Er antwortete ihnen: Er legte mir einen Teig auf die Augen und ich wusch mich und jetzt sehe ich.
Einige der Pharisäer sagten: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sagten: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? So entstand eine Spaltung unter ihnen.
Da fragten sie den Blinden noch einmal: Was sagst du selbst über ihn? Er hat doch deine Augen geöffnet. Der Mann sagte: Er ist ein Prophet.
Die Juden aber wollten nicht glauben, dass er blind gewesen und sehend geworden war. Daher riefen sie die Eltern des von der Blindheit Geheilten und fragten sie: Ist das euer Sohn, von dem ihr sagt, dass er blind geboren wurde? Wie kommt es, dass er jetzt sieht?
Seine Eltern antworteten: Wir wissen, dass er unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde. Wie es kommt, dass er jetzt sieht,
das wissen wir nicht. Und wer seine Augen geöffnet hat, das wissen wir auch nicht. Fragt doch ihn selbst, er ist alt genug und kann selbst für sich sprechen! Das sagten seine Eltern, weil sie sich vor den Juden fürchteten; denn die Juden hatten schon beschlossen, jeden, der ihn als den Christus bekenne, aus der Synagoge auszustoßen.
Deswegen sagten seine Eltern: Er ist alt genug, fragt ihn selbst!
Da riefen die Pharisäer den Mann, der blind gewesen war, zum zweiten Mal und sagten zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. Er antwortete: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Nur das eine weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe.
Sie fragten ihn: Was hat er mit dir gemacht? Wie hat er deine Augen geöffnet? Er antwortete ihnen: Ich habe es euch bereits gesagt,
aber ihr habt nicht gehört. Warum wollt ihr es noch einmal hören?
Wollt etwa auch ihr seine Jünger werden? Da beschimpften sie ihn:
Du bist ein Jünger dieses Menschen; wir aber sind Jünger des Mose. Wir wissen, dass zu Mose Gott gesprochen hat; aber von dem da wissen wir nicht, woher er kommt. Der Mensch antwortete ihnen: Darin liegt ja das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er kommt;
dabei hat er doch meine Augen geöffnet. Wir wissen, dass Gott Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut,
den erhört er. Noch nie hat man gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. Wenn dieser nicht von Gott wäre,
dann hätte er gewiss nichts ausrichten können.
Sie entgegneten ihm: Du bist ganz und gar in Sünden geboren und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus. Jesus hörte, dass sie ihn hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: laubst du an den Menschensohn? Da antwortete jener und sagte: Wer ist das, Herr, damit ich an ihn glaube? Jesus sagte zu ihm: Du hast ihn bereits gesehen; er, der mit dir redet, ist es. Er aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder.
Da sprach Jesus: Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen:
damit die nicht Sehenden sehen und die Sehenden blind werden.
Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten dies. Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind? Jesus sagte zu ihnen: Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde.
Predigt
Ein Spiel, dass alle kleineren Kinder, die noch nicht sprechen können, sehr gern spielen geht so: die Augen mit den eigenen Händen zuhalten, plötzlich die Hände wegnehmenden, sein Gegenüber mit großen Augen ansehen – und dabei ausrufen „Da!“. Und das immer wieder. Für das Kind, das sich die Augen zuhält, ist der andere hinter den Händen gleichsam völlig verschwunden. Es gibt ihn gar nicht mehr. Und indem es die Hände wegnimmt, ist sein Gegenüber plötzlich wieder da. Dieses „Wegschaffen und Neuschaffen“ des Anderen ist, so könnte man sagen, ein schöpferisches Spiel, und ein Spiel der Vertrauensbildung. Ein solches Spiel verliert irgendwann seinen Reiz. Wir lernen, dass der andere nicht verschwindet, nur weil wir uns die Augen zuhalten.
Ein solches Spiel oder auch das beliebte „Ich sehe was, was du nicht siehst“, können selbst in späteren Jahren unsere Wahrnehmung schulen, ähnlich wie beispielsweise der Besuch in dem Projekt „Dialog im Dunkeln“ im Dialoghaus in Hamburg. Hier kann man für eine gewisse Zeit ganz in die Welt der Blinden eintauchen und erfahren, was es heißt, unsere Welt ohne Sehen wahrzunehmen. Selbst Dinge, die einem alltäglich widerfahren wie Geräusche, Berührungen, Schritte, die man geht, nimmt man anders, wie ich finde meist intensiver wahr. Häufig kommt dabei noch der Überraschungseffekt hinzu.
Überrascht wird vermutlich auch jener Blinde aus dem Evangelium gewesen sein, als Jesus ihm das Augenlicht schenkt, ihn von der angeborenen Blindheit heilt. Es ist ja nicht nur das Augenlicht, was er geschenkt bekommt. Seine ganze Lebenssituation ändert sich, da er nun nicht mehr zum Betteln verurteilt ist. Wenn man so will, ist es wie eine neue Geburt in das Leben hinein. Schon allein dieser Umstand wäre es wert gewesen, in der Bibel festgehalten zu werden.
Doch Jesus will durch dieses Wunder mehr erreichen. Zum einen geht es, wie so häufig, um die Auseinandersetzung mit den Pharisäern und die Einhaltung der jüdischen Sabbatvorschriften, die für sie einen höheren Stellenwert haben, als die Heilung eines Menschen. Doch um eine solche Einstufung geht es Jesus im letzten auch nicht.
Es geht vielmehr um das tiefere Sehen und wirkliche Erkennen. Und das können wir am Geheilten ablesen. Er ist es, der öffentlich, ohne Angst vor Sanktionen, ausspricht: Jesus ist ein Prophet! Dieses Bekenntnis scheint für jemanden, der gerade das Wunder der Heilung an sich erfahren hat, nicht außergewöhnlich. Die Frage ist: Geht die Erkenntnis noch tiefer?
Es kommt zu einer zweiten Begegnung Jesu mit dem Geheilten. Und nun wird eine andere Dimension angesprochen. Es ist die Frage nach dem Glauben. „Glaubst du an den Menschensohn?“, fragt Jesus. Und nach der Rückfrage, wer denn dieser sei und der Selbstoffenbarung Jesu als Menschensohn, wird aus dem sehend gewordenen Blinden, über das Bekenntnis – ein Glaubender.
Aus einer anfänglichen Begegnung wird über eine Heilung eine Glaubensgeschichte.
Wenn ich diese frohe Botschaft lese, bin ich berührt von der Art und Weise, wie Jesus die Menschen anschaut – wer auch immer es ist, der oder die ihm vor die Augen treten. Er wendet sich dem anderen ganz zu und wird zugleich durchsichtig für Gott.
Schauen auch wir an diesem Laetare-Sonntag dankbar und freudig auf Jesus, um so Gott ein wenig tiefer zu erkennen. Jesus hilft uns, die Blindheit zu nehmen. Gehen wir in den „Dialog im Licht“ mit ihm.