von Diakon Tobias Riedel
Evangelium: Joh 6,60-69
In jener Zeit
60 sagten viele der Jünger Jesu, die ihm zuhörten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?
61 Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß?
62 Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn aufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war?
63 Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben.
64 Aber es gibt unter euch einige, die nicht glauben. Jesus wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten, und wer ihn ausliefern würde.
65 Und er sagte: Deshalb habe ich zu euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen,
wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist.
66 Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher.
67 Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen?
68 Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.
69 Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.
Predigt [1]
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Seit Ende Juli haben wir Sonntag für Sonntag im Gottesdienst einen Abschnitt aus dem 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums gehört, heute den fünften und letzten Teil. [2] Im Zentrum dieses 6. Kapitels steht die sogenannte „Brotrede“, in der der Evangelist über das Bild von Jesus als dem Brot den Lebens nachdenkt, es entfaltet, es meditiert. Ein wunderbarer Text, geschrieben rund 60 Jahre nach Jesu Tod, und zentral für die johanneische Theologie.
Die Predigt des historischen Jesus von Nazareth – davon bin ich überzeugt – klang allerdings anders. Was bekamen die Menschen, die damals mit ihm durch Galiläa zogen, zu hören? Was konnten sie vom Lebensstil Jesu, der so anders war als der vieler Zeitgenossen, lernen? Über diese Frage habe ich in den letzten Tagen nachgedacht – und möchte in der Predigt heute drei Antworten mit ihnen teilen.
Erstens: Zentral für Jesus ist seine enge, ja intime Gottesbeziehung. Jesus lebt mit seinem Vater „auf du und du“. Und er pflegt diese Beziehung sehr bewusst: Immer wieder berichten die Evangelien davon, dass sich Jesus in die Stille zurückzog, um zu beten. [3] Paulus wird später in seiner Rede auf dem Areopag in Athen formulieren: „In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ [4] Genau so scheint es auch Jesus empfunden zu haben. Mehr noch: Der Evangelist Johannes lässt Jesus ausrufen: „Ich und der Vater sind eins.“ [5] Zwischen die beiden – Jesus und seinen Vater – passt kein Blatt.
In diese intime Gottesbeziehung nimmt Jesus seine Jüngerinnen und Jünger mit hinein. Er lehrt sie, Gott vertrauensvoll zu begegnen, angstfrei. Das Gebet, das bis heute alle Christen verbindet, beginnt deshalb mit einer Anrede aus dem familiären Bereich: Vater unser. Dabei klingt die deutsche Übersetzung „Vater“ eigentlich noch viel zu steif und distanziert – treffender wäre das aramäische „Abba“, zu Deutsch „Papa“. Jesus ist davon überzeugt: Gott liebt alle Menschen wie ein guter Vater (oder eine gute Mutter) ihre Kinder. Entsprechend verkündet er ihn – und entsprechend dürfen auch wir ihn anreden.
Zweitens: Wenn Menschen die Erfahrung machen, dass sie von Gott geliebt sind, liegt darin eine große verändernde Kraft. Wer einmal erfahren hat, dass er von Gott gewollt und geliebt ist, muss um seinen Platz in der Welt nicht mehr kämpfen. Vielmehr weiß er: Ich bin gewollt – ich bin in Ordnung – ich bin berechtigt. Viele Menschen, die Jesus begegnet sind, haben diese Erfahrung gemacht und sind so heil geworden an Körper und Seele. Die Evangelien sind voll davon, denken wir nur an die zehn Aussätzigen [6] oder die blutflüssige Frau. [7] Und Gott sei Dank: Auch wir können heute noch diese Erfahrung machen, wenn wir dem Auferstandenen begegnen.
Allerdings hat die Erfahrung, von Gott geliebt zu sein, Konsequenzen – denn die Liebe Gottes gilt ja nicht nur mir, sondern auch allen anderen Menschen. Für unseren menschlichen Verstand und Gerechtigkeitssinn ist es mitunter schwer einzusehen, dass Gott ausnahmslos alle Menschen liebt, auch den größten Verbrecher. Doch genau so ist Liebe eben: Sie ist keine Belohnung für ethisch gutes Verhalten, sondern ein Geschenk, das Gott uns macht – vor aller Leistung und trotz aller Schuld. Die Erfahrung, dass wir alle von Gott gewollt und geliebt sind, befreit uns vom ewigen Konkurrenzkampf und macht uns zu Geschwistern.
Drittens: Wer einmal erkannt hat, dass er von Gott bedingungslos geliebt ist, empfindet in aller Regel das Bedürfnis, auf Gottes Liebe zu antworten. Eine erste Antwort besteht darin, Gottes Liebe zu erwidern: Dankbarkeit Gott gegenüber stellt sich ein – und der Wunsch, Gott ein Leben lang zu suchen, um gemeinsam mit ihm durchs Leben zu gehen. Hinzu kommt eine zweite Antwort: Der Wunsch, die Liebe Gottes weiter zu schenken. Denn Liebe ist immer mehr als ein Geschenk – sie ist auch ein Auftrag. So wird die Liebe Gottes, die Menschen erfahren, zum Motor, sich für den Erhalt der Schöpfung oder für andere Menschen zu engagieren, in welchem Bereich auch immer.
Ich wünsche uns, dass wir die Liebe Gottes erfahren – dass wir durch diese Erfahrung heil werden an Körper und Seele – und dass uns diese Erfahrung antreibt, uns für Gottes Schöpfung und für seine Menschen einzusetzen.
Amen.
[1] Zu dem Abschnitt aus dem Epheserbrief, den die Leseordnung für den 21. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr B als zweite Lesung vorsieht (Eph 5,21-32) und der bei vielen Zeitgenossen – auch bei mir – immer wieder für Irritationen sorgt, habe ich mich vor drei Jahren geäußert. Hier können Sie meine Predigt von damals noch einmal nachlesen [PDF].
[2] 17. Sonntag im Jahreskreis B Joh 6,1-15 / 18. Sonntag im Jahreskreis B Joh 6,24-35 / 19. Sonntag im Jahreskreis B Joh 6,41-51 / 20. Sonntag im Jahreskreis B Joh 6,51-58 / 21. Sonntag im Jahreskreis B Joh 6,60-69
[3] Vgl. Mt 14,23 / Mk 1,35 / Lk 5,16 et alii
[4] Vgl. Apg 17,28
[5] Joh 10,30
[6] Lk 17,11-19
[7] Mk 5,25-34